Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Stimme. »Zumindest wollen wir einen Blick darauf werfen. Die anderen setzen sich wieder, wie es sich für einen Rat gehört. Und haltet geziemende Ruhe.« Der Bürgermeister, der Anweiser der Bücherey und der Herold desHüggellandes schoben geräuschvoll ihre Stühle zurück, standen auf und traten gemessenen Schrittes herbei.
Derweil gaben die den Halbkreis bildenden Vahits dem Wunsche zögerlich nach und setzten sich, wenn auch nicht alle wieder an ihren ursprünglichen Platz. Mellow, dessen Schultern gleichfalls als Stütze für drei oder vier Vahits gedient hatten, rieb seinen Nacken.
Es gab in Circendils Nähe einiges Gedränge und Getuschel, das sich erst legte, als der Vahogathmáhir die Betreffenden mit einem vorwurfsvollen Blick tadelte.
»Ihr werdet alle Gelegenheit bekommen, nachher einen Blick auf dieses seltene Buch zu werfen«, sagte er vernehmlich. »Später, und zu passenderer Gelegenheit. Ich verspreche es. Und vorausgesetzt, dass unser Gast damit einverstanden ist. Und damit zu Euch, Herr Mönch: Was genau bezweckt Ihr mit dieser neuen Überraschung?«
»Zunächst möchte ich ausdrücklich, dass euer Alam Buoggir Taddarig sich des Buches annimmt und bestätigt, was ich über seine Machart sagte.«
»Aha! Nun ja, soso«, meinte dieser und wagte das schwere Buch nicht aufzunehmen; aber er streckte seine Hand aus und strich zunächst vorsichtig darüber, was dem gleichfalls herbeigeeilten Wosto ein wehmütiges Seufzen entlockte. Dessen Sehgläser beschlugen, doch er bemerkte es nicht.
»Na, dann wollen wir mal sehen.« Der alte Taddarig fuhr mit der Hand über den schimmernden Einband, betastete die jetzt grauen, erhabenen, fast fingerdicken Prägungen, die ein einzelnes Schriftzeichen darstellten, aber eines, das er nicht kannte und nie zuvor gesehen hatte. Der Buoggir schüttelte den Kopf. »Das ist fraglos irgendein fremder Stoff. Kein Leder, so viel kann ich sagen. Er ist fest aufgezogen und faltenlos, aber es ist weder Leinen noch Kattun, sondern etwas, das ich nicht kenne. Es hat keine Nähte, die ich sehen oder ertasten kann. Seine Oberfläche ist – nun ja, glatt, äußerst glatt sogar, möchte ich sagen.« Jetzt hob er es an und stutzte.»Es ist leichter als erwartet. Viel zu leicht, um genau zu sein. Was ist … Eigenartig.«
Während der erfahrene alte Staubner das Buch ein wenig ratlos drehte und wendete, ging ein mehrfach an- und abschwellendes Raunen durch die Reihen der Anwesenden. Je nachdem, wie Taddarig es hielt, änderte das Buch seine Farbe: Es wurde erdbraun wie seine Jacke, grün wie das Gras zu seinen Füßen, rot und golddurchwirkt wie die Amtswesten der Schöffen oder dunkelblau wie das Kleid der Vahitfrau, die neben ihm stand und ihrerseits Circendil anstarrte, ohne das Buch auch nur eines Blicks zu würdigen. Je nachdem, wer es ansah und aus welcher Richtung man darauf blickte, zeigte es alle Farben und in Wahrheit keine.
Der Einband war vollkommen heil und unversehrt, ein Umstand, der in Anbetracht des hohen Alters des Buches unerklärlich war. Und er war sauber, so rein, als habe der einstige Buchbinder seine Arbeit erst an diesem Morgen beendet. Taddarig kam zu demselben Schluss, denn er sagte: »Es weist keinerlei Verschmutzung auf, was äußerst ungewöhnlich ist. Sagtet Ihr nicht, es sei beschädigt worden?«
Circendil nickte. »Es ist beschädigt worden. Ich zeige es euch gleich. Doch sagt: Entstammt dieses Buch einer Vahitwerkstatt?«
»Nie und nimmer.«
»Ist es von Menschenhand erstellt?«
»Von keines Menschen Hand, soweit ich es mir vorzustellen vermag«, antwortete Taddarig etwas vorsichtiger. »Nun, da Ihr es wissen wollt: Nein, ich glaube nicht, dass die Dirin zu derlei fähig sind, bitte um Verzeihung, Herr Medhir.«
»Dazu besteht keinerlei Grund, Herr Taddarig, denn Ihr sprecht die Wahrheit. Aber lasst uns, ehe wir uns seinem Inneren zuwenden, noch eine letzte Probe versuchen.« Er wandte sich an den Witamáhir. »Gibt es in Euren Kellern roten Wein?«
Das kam so unverhofft, dass die Menge förmlich aufstöhnte.
»Er will roten Wein verkosten« , hörte Finn hinter sich sagen. »Ist das zu glauben?«
»Na ja, zu einem guten Schmöker gehört eben ein gutes Gläschen Wein.«
»Dafür ist’s zu früh am Morgen!«
»Unerhört, das alles!«
»Du sagst es.« Und Ähnliches mehr.
Circendil lächelte. »Nein, ich will ihn nicht trinken. Und Ihr müsst mir auch nicht euren besten Jahrgang kredenzen. Ein wenig Küchenwein tut es
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