Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
rieb sie vorsichtig zwischen den Fingern, strich über die Buchstaben hinweg, beugte zuletzt gar die Nase tief ins Buch hinein und schnupperte daran, nur um am Ende den Blick zu heben und wortlos den Kopf zu schütteln.
»Nein«, sagte er und wirkte erschöpft, »auch die Seiten sind fester, als selbst Pergament es ist. Zudem ist es glatter als jedes Papier, das im Hüggelland hergestellt werden kann. Niemand vermag das – Verzeihung, Herr Finn. Solcherart Papier kann auch ein Herr Furgo nicht zaubern. Und da habt Ihr’s – jetzt habe ich es doch gesagt: zaubern . Ein Ding wie dieses Buch dürfte es gar nicht geben. Und das ist es doch, was Ihr uns damit zeigen wollt, nicht wahr, Herr Mensch?«
Taddarig klappte die lorc’hennië cromairénaë zu und trat von dem Buch zurück.
»Na schön!«, ertönte die Stimme des Vahogathmáhir. »Dann wissen wir das. Darf ich jetzt alle bitten, sich wieder zu setzen?« Wredian Gimpel ging zu seinem Platz zurück, und die noch Stehenden folgten seinem Beispiel.
»Meine Freunde«, hub der Bürgermeister an, als er wieder auf dem Podest stand. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Lasst uns die Beratung fortsetzen. Auch auf die Gefahr hin, einem Buch zu wenig Ehrerbietung entgegenzubringen – wohin führt uns das alles? Ich frage Euch, Herr Medhir, und ich frage es zum zweiten Mal: Was hat Eure Vorstellung mit unserer Lage zu tun? Mit der Verteidigung des Hüggellandes? Wenn ich mich recht entsinne, ist dieser Rat allein zu diesem Zwecke einberufen worden: um zu beraten, wie wir uns gegen die Gefahr eines neuerlichen Angriffs zu schützen vermögen. Was bezweckt Ihr also mit Eurem Buch?«
Circendil stand auf und sagte: »Bezwecken? Ja, ein Zweck liegt darin, oder mehr als nur einer. Ihr habt Recht, und ich komme sofort auf die Angelegenheit, derentwegen wir hier zusammensitzen, zurück. Das Hüggelland soll und muss verteidigt werden, aber das kann es nur, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen. Um aber richtige Entscheidungen zu treffen, ist wiederum Vorwissen nötig – ein grundlegendes Verständnis, könnte man sagen, worum es eigentlich geht.
Und dieses Buch «, er betonte das Wort wie vor ihm der Vahogathmáhir und hob es noch einmal deutlich für alle sichtbar empor, »dieses Buch ist der Schlüssel zu allem, was euch, was uns unlängst widerfahren ist. Und es ist zugleich das einzige Pfund, das wir in die Waagschale unseres Schicksals werfen können, soll sie sich noch zu unseren Gunsten senken! Nein, nein«, wehrte er einige Zurufe ab, »nicht das Buch an sich meine ich. Obwohl es, wie ihr alle sehen konntet, aus Fernenseide und Fernenpapier besteht und sich damit als ein tatsächliches Werk der Féar offenbart. Und zugleich als Beweis für deren Dasein. Aber alles das ist zweitrangig, solange wir nur davon ausgehen können: Es gab die Féar, und es gibt sievermutlich noch heute, obwohl wir das nicht mit Sicherheit wissen.
Was jedoch für die Lage jetzt und hier im Hüggelland viel wichtiger ist, ist, was in jenem Buch geschrieben steht. Und selbst das ist nicht die ganze Wahrheit, verehrte Vahits. Ich werde besonders von dem zu sprechen haben, was nicht mehr in ihm verzeichnet ist! Diese Dinge zu verstehen und ihre Auswirkungen zu bedenken, ist wichtig. Wichtiger womöglich, als ihr annehmt! Hierin allein liegt das künftige Wohl und Wehe des Hügellandes, ebenso wie das der Drei Königreiche, mögt ihr es nun glauben oder nicht.«
Ernster und drängender denn je klangen seine Worte. Selbst dem tumbesten unter den Vahits wurde in diesem Augenblick klar: So sprach niemand ohne hinreichenden Grund.
Eine erwartungsvolle Stille senkte sich über den grünen Innenhof der Bücherey, während die Sonne auf dem plötzlich vernehmlich laut plätschernden Wasser schillerte.
Der herbstliche Wind strich unbeirrt durch den Wipfel der Linde und entlockte ihren Blättern ein stöhnendes Rauschen. Er schlug in die Stoffbahnen des Zeltes und spielte mit den aufgepflanzten farbigen Bannern, die über dem Brunnen flatterten: Rot und gelb leuchtete die Landhüterfahne; daneben tanzte der Schriftrollen-Pfeil der Postler über Grün und Blau; und an seiner Seite wogte das Grün-Weiß der Buoggagilde; überragt von noch zwei prächtigeren Bannern – dem des Vahogathmáhirs, Seite an Seite mit dem des Sverunmáhirs. Beide zeigten, wie alle Schöffenfahnen, die Sieben Sterne über den Hügeln: Sieben Sterne umrahmten die zwei gekreuzten
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