Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Schriftrollen des Bürgermeisteramtes, sieben weitere die aufgehende Sonne des Herolds.
Ein Lichtfächer fiel durch das Geäst der Linde, als sich im Wind deren Zweige bogen; und er fing sich im Einband des Buches, gerade als der Davenamönch es wieder ablegte. Leuchtende Farben wie von einem Regenbogen flogen plötzlich über das Weiß der Tischtücher hinweg, hielten einen Moment an wie unschlüssige Schmetterlinge, und huschten dann fort, als eine treibende Wolkedas Schauspiel jäh beendete. Ohne dass Finn es sich zu erklären vermochte, betrübte ihn der Verlust der Farben, und er fröstelte, als habe ein plötzlicher kühler Hauch ihn gestreift.
Als Finn aufblickte, sah er mit einem Mal Tallias große Augen auf sich ruhen. Sie lächelte ihm quer über das Geviert hinweg zu. Finn spürte sein Herz aussetzen und sogleich schneller schlagen: Es machte einen Satz, als wisse es nicht, ob dies richtig war, ehe es wie wild draufloshämmerte. Eine selige Wärme stieg in ihm auf. Erst zögernd, dann befreiter, gelang es ihm, ihr Lächeln zaghaft zu erwidern. Gerade in diesem Augenblick trieb die Wolke davon, und ihre Schatten flohen aus dem Innengarten. Ein Sonnenstrahl traf Tallias Locken, und Finn glaubte, in einen schillernden Kranz aus Licht zu blicken, in das er gleichsam hineinfiel; und ihm war, als stürze er haltlos hinein in einen Brunnen aus goldenen, flirrenden Wellen, die nicht aufhören wollten zu funkeln. Von dessen Grund schauten ihn zwei seeblaue Augen an, sehend, wissend und durchdringend, gepaart mit einer Glut, die er nicht verstand, die ihn aber in seinem Innersten berührte und zugleich so verwirrte, dass er nach Atem schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Er meinte zu spüren, wie er bis zu den Ohren errötete oder bildete es sich zumindest ein; im Wissen, dass sie sein Erglühen zweifellos bemerkte, senkte er beschämt den Blick; und er schalt sich einen dreimal tumben Narren und saß hilflos da, die Starre erst gebrochen, als der Medhir das Buch vom Tisch nahm und abermals in die Höhe hielt.
»Mit der lorc’hennië cromairénaë halten wir einen Schlüssel in Händen, so sagte ich eben«, fuhr Circendil fort. »Aber wie verhält es sich mit dem Schloss, in das er passt? Und wie ist die Tür beschaffen, die dieses Schloss schließt? Und erst der Raum dahinter?«
Er machte eine Pause und winkte unwirsch die eigenen Worte fort. »Bitte verzeiht, ich spreche in Bildern, und ich sollte deutlicher werden.«
Jetzt hob er das Buch mit beiden Händen über den Kopf, sodass es auch der letzte Vahit deutlich sehen konnte. Wieder glitt Farbe um Farbe darüber hinweg und sprang über die Gesichter, und wie zuvor raunten, zischten, staunten, murmelten und empörten sich die zunächst Sitzenden, je nach Wesensart und Eigenheit. Am lautesten murrte Hamblád Drossler, der Postlenker. Gesslo Regenpfeifer hockte mit verschränkten Armen neben ihm und schwieg verbissen. Bholobhorg Feldschwirl ahmte den Gauvogt nach, mehr noch: Er starrte mit offener Feindseligkeit auf den Mönch.
Circendil tat, als bemerke er den offen zur Schau gestellten Unmut nicht. »Ich habe euch das Buch gezeigt, um zu beweisen, dass es eure Feen – die wahren Féar, meine ich natürlich – einst tatsächlich gegeben hat. Und wenn es sie gegeben hat und wenn das Buch die Wahrheit sagt – woran ich keinen Augenblick zweifele – dann ist der Féar damaliger Feind unser heutiger Feind! Denn das ist die Geschichte, die es erzählt: Wie es vor langer Zeit zum Zerwürfnis zwischen den Féar und Lukather dem Grausamen kam; wie er fortging und Rache schwor; wie er seine mächtige Festung Ulúrlim erbaute; und immer neue Ränke schmiedete, abwartend und geduldig. Wie er wartet, bis er dereinst stark genug sein wird, die Féar offen zu bekriegen und seinen Racheschwur zu erfüllen. Er wartet, finstere Gedanken brütend, geduldig wie eine Spinne im Netz. Wartet auf den Tag der Rache!
Und darum hört, was ich glaube, meine Freunde: Jener Tag ist nunmehr gekommen! Ausgerechnet wir sind es, die ihn erleben und erleiden müssen! Und seltsamerweise hier, im abgelegenen Hüggelland, dem unwahrscheinlichsten Ort auf Kringerdes weitem Rücken; hier beginnt der Krieg, so un- und widersinnig es euch auch erscheinen mag! Das Hüggelland mit seinen friedliebenden Vahits steht im Begriff, zwischen die Fronten einer Auseinandersetzung zu geraten, die die Féar und ihre Verbündeten betrifft! Da habt ihr die Bedeutung dessen, was Finn und
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