Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
das Papier dem Dicken hin.
Der machte allerdings keine Anstalten, den Brief entgegenzunehmen. Er leckte sich weiter die Fingerspitzen, wischte sie dann gar an seiner Hose sauber und verschränkte am Ende die Arme vor der Brust. Er begann, ungeduldig auf den Fußballen zu wippen. Mit einer sparsamen Bewegung seines Kinns deutete der fremde Vahit auf den Brief.
»Keine Rücksicht, und das mit Absicht, wie?«, nörgelte er. »Was hat dir mein Magen eigentlich getan? Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen, und schon willst du, dass ich Bauchgrimmen bekomme. Aber helfen soll ich dir, vermute ich. Was seid ihr hier im Obergau nur für ein unhöfliches Volk?«
Der dicke Vahit schüttelte entrüstet den Kopf und ließ sich auf den Stuhl hinter dem nächsten Tisch fallen. Der Stuhl knackte bedenklich, als er sich vorbeugte und zu einer Feder griff. Er tauchte sie in ein verkleckstes Tintenfass und stellte dann fest, dass er kein Papier zur Hand hatte. Mit einer Hand die tropfende Feder erhoben, wühlte er mit der anderen in einem Stapel, bis er fand, was er suchte. Mit dem breiten Ellbogen strich er die Schriftrolle glatt.
»Also schön«, sagte er. »Name?«
»Meiner oder der desjenigen, in dessen Namen ich die Meldung machen soll?«
»Fangen wir mit dem deinigen an. Du heißt?«
»Finn Fokklin. Ich bin Furgo Fokklins Sohn aus Moorreet.«
»Dann wissen wir das«, sagte der dicke Vahit.
Er setzte die Feder an und bemerkte erst jetzt, dass die Tinte an seinem Handgelenk heruntergelaufen war. Mürrisch tauchte er die Spitze wieder ein und schrieb dann den Namen hin. Die Schmierspur auf dem Papier schien ihn nicht zu stören. Finn versuchte, sich seinen Vater vorzustellen, falls dieser ihn bei dergleichen jemals erwischte.
»Und dieser Furgo ist jener, in dessen Namen du Meldung machen sollst?«
»Nein. Es geht um diesen Brief hier. Der ist an meinen Vater gerichtet, und darin bittet ein gewisser Banavred Borker meinen Vater, die Landhüter zu verständigen.«
Der dicke Landhüter sah auf und betrachtete Finn mit einer sich immer weiter verdüsternden Miene. Er nickte freudlos.
»Ich hab’s befürchtet«, sagte er. »Ich hab’s dir förmlich angesehen. Du bist einer von denen, die Schwierigkeiten machen. Einer, der mein Essen kalt werden lässt. Erst sagst du, du willst eine Meldung machen. Dann sagst du, du willst die Meldung im Namen eines mir unbekannten anderen machen. Wie sich zeigt, auf Bitten eines mir gleichfalls unbekannten Dritten hin. Und alles das vermutlich wegen eines verloren gegangenen Schafes, ja?«
»Na ja, nicht ganz.«
»Weswegen denn – wegen eines halben Schafes?« Wenn das ein Scherz sein sollte, reichte der jedenfalls nicht, einen der beiden zum Lachen zu bringen; vielleicht, weil es alles andere als witzig klang.
»Nein, wegen eines gerissenen Schafes«, erklärte Finn. »Wenn du dir endlich diesen Brief durchläsest, wüsstest du längst, worum es geht.«
Der Landhüter hob die Augenbrauen. »Du weißt, dass ich das nicht darf.«
»Wieso?«
»Weil der Brief nicht an mich gerichtet ist. Es ist ehrlos, die Briefe anderer Vahits zu lesen.«
Finn beugte sich über den Tisch. »In diesem Fall nicht, Herr Landhüter. In diesem Fall beweist der Brief das, was ich euch melden soll.«
»Na schön, dann gib schon her.«
Der dickleibige Vahit nahm Finn den Brief aus der Hand und begann zu lesen.
Finn hörte ihn mehrere Ahas und Sosos vor sich hin brummen. Dann hob er den Blick und starrte Finn streng an. »Das ist ein Geschäftsbrief. Er geht mich erst recht nichts an.«
»Hast du ihn denn bis zum Schluss gelesen?«, fragte Finn, der allmählich die Geduld verlor.
»Nein, das brauche ich nicht. Die Liste hier besagt genug. Soundso viel Tinte, soundso viel Papier …«
Finn beugte sich noch weiter über den Tisch und deutete mit dem Finger auf den betreffenden Absatz. »Würdest du – bitte – auch den letzten Teil lesen?«
Der Landhüter wandte sich wieder dem Brief zu und las ihn bis zur Unterschrift. Dann faltete er den Bogen zusammen und gab ihn Finn zurück.
»So«, sagte er missmutig. »Und deshalb verdirbst du mir den Tag? Ein Schaf ist gerissen worden, schreibt dieser Banavred, wer immer das ist. Und ich frage dich: Wo wohnt er? Draußen und ganz allein im Alten Turm? Fast schon nicht mehr im Hüggelland? Und was ist dieser Banavred? Ein Himmelsforscher? Hat man so was Verrücktes schon gehört? Ein Einsiedler ist er, wenn du mich fragst, und ein Wirrkopf dazu.
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