Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Vielleicht begann Finn aus diesem Grund nach einer Weile, leise vor sich hin zu schimpfen.
»Das ist doch wirklich nicht zu fassen!«, ereiferte er sich ein oder zwei Meilen jenseits des Dorfes. »Du kannst wirklich froh sein, Smod, dass du draußen warten musstest!«
Ob Smod seinerseits froh darüber war oder nicht, verriet er nicht. Aber das Spiel seiner Ohren zeigte, dass er zumindest aufmerksam zuhörte.
»Weißt du, ich dachte stets, die Landhüter seien für uns da. Um zu helfen, wenn jemand in Not gerät. Oder um nachzusehen, falls etwas nicht stimmt. Und eins kannst du mir glauben – hier stimmt’s gleich an zwei Enden nicht.«
Smod schritt zügig die Straße entlang, und sein Kopf fuhr dabei auf und ab, als nicke er bekräftigend.
»Was ich damit meine? Da ist diese Sache mit Banavreds Ersuchen in seinem Brief. Jeder mit auch nur einem bisschen mehr Verstand als ein Kohlkopf kann doch erkennen, wie ernst es Banavred damit ist. Was groß genug ist, um ein Schaf zu reißen, das ist auch stark genug, einem Vahit gefährlich zu werden. Oder etwa nicht?«
Smod nickte weiter in seinem Geschirr.
»Na, siehst du. Und in derselben Gegend verschwinden plötzlich zwei Kinder. Ich will ja nicht unken, aber seltsam ist das schon, findest du nicht auch?«
Smod blieb eine Antwort schuldig, es sei denn, sein Schnauben bedeutete mehr als das, was es war.
»Na ja«, fuhr Finn fort, »das andere Ende ist dieser Vorzeigelandhüter, den wir da haben, du meine Güte! Ich halte hier die Stellung für Herrn Gesslo!« , ahmte er dessen Tanninger Sprechweise nach. »Ich sag dir was, Smod – wir sind in echten Nöten, wenn das die Leute sind, auf die wir uns bei auftretenden Schwierigkeiten verlassen sollen. Im Ernst, ich frag mich, was tut dieser Bholobhorg, wenn’s einmal brennt?«
Er kam nicht mehr dazu, sich weiter über seinen Ärger mit dem bockigen Hüter zu verbreiten, denn in diesem Augenblick hörte er vor sich ein hustendes Keuchen. Vor dem Wagen lag eine Hügelkuppe, und als Finn sie überblicken konnte, bemerkte er zunächst einen verblichenen grünen Sack, der langsam die andere Seite der Kuppe hinunterging, und dann vor dem Sack einen gebeugten, grauhaarigen Kopf, der in der Mittagshitze keuchte. Als Smod den Anstieg ganz gemeistert hatte, erkannte Finn den Träger: Es war Kuaslom Pfuhlig. Er ging zu Fuß und hatte seinen Postbeutel geschultert. Von seinem gewohnten Pony war weit und breit nichts zu sehen. Finn erinnerte sich an den lahmenden Gang des Tieres, den er am frühen Morgen bemerkt hatte. Offenbar hatte dessen Leiden sich verschlimmert, sodass der Postbote nun unberitten war. Kuaslom trat an die Seite und wollte den Wagen vorbeilassen.
»Du liebe Güte!«, rief Finn und hielt an. »Es ist also übler geworden. Ich ahnte es beinahe.«
»Der junge Herr Finn«, grüßte Kuaslom. Der Postler zückte ein Taschentuch und wischte sich die Stirn. »Übler, fragst du?«, keuchte er. »Wieso fragst du das? Obwohl du natürlich Recht hast.«
»Ich sah, dass dein Pony Schmerzen hatte heute Morgen.«
»Die arme Truda. Ja. Es ist ein Jammer, das ist es. Hat sich ’nen Dorn in den Huf getreten. Könnte mich ohrfeigen. Hab’s zu spät bemerkt. Nun ist der Huf entzündet. Truda liegt im Stall auf einem guten Bett aus Stroh«, setzte er schlechten Gewissens hinzu. »Ich kann mich nicht mal um sie kümmern. Da hast du’s. Immerhin sieht Odian nach ihr. Er sagt, er kenne eine Heilsalbe für geschwollene Gelenke.«
Odian Wachtel war der Postler, mit dem Kuaslom alle neunundzwanzig Tage die Schichten tauschte. Er war bis Mittmonat derjenige, der das Postlerhaus hütete und die Briefe innerhalb Mechellindes verteilte, während Kuaslom den Zustelldienst außerhalb versah. Anfang September, als das halbe Hüggelland sich für die Einladung zu Finns Geburtstagsfest bedankte, hatte Odiandie Strecke Rudenforst-Mechellinde-Moorreet betreut und den Hauptanteil zu schleppen gehabt.
»Und weshalb bist du stattdessen auf deinen eigenen Hufen unterwegs, wenn ich fragen darf?«
»Ja, mach dich nur lustig über einen alten Vahit. Weil nun mal die Pflicht ruft, deshalb.«
»Ich meinte, weshalb hast du kein anderes Pony genommen?«
Kuaslom schnaubte und hob ächzend den Beutel auf die andere Schulter. »Sind keine mehr da. Nicht im Mietstall nicht und auch nicht im Landhüterstall. Die Rothüte sind unterwegs, weiß der ferne Herr Wredian, wohin. Haben sich einfach alle Ersatzponys mitgenommen, die sie kriegen
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