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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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geplante Plakette »Patientenfreundliche Praxis« für die Praxistür kommt. Und weil es über den Gesetzgeber ohnehin feststeht, dass es bald gar nicht mehr ohne Zertifizierung und Qualitätsmanagement geht, unterziehen sich die Ärzte an ihren freien Wochenenden komplizierten Schulungen. Ein bisschen psychologische Nachhilfe für renitente Allgemeinmediziner besorgt den Rest: Was, wenn die Krankenkassen eine Plazierung auf der »Liste« zur Voraussetzung ihrer Zahlungen machen? Wer nicht zertifiziert ist, wird aussortiert! Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen! Unser guter Doktor kann sein teures Studium und seine ganze, oft über Jahrzehnte erworbeneErfahrung vergessen – nur weil er sich einiger bürokratischer Monstrositäten nicht unterzogen hat. Arzt sein ohne Plakette wird bald so sein wie Autofahren ohne TÜV. Schon heute sprechen die KVen vom »Ärzte-TÜV«. Das will kaum einer riskieren. Die Kröte wird geschluckt, die Anmeldung für die Schulung abgeschickt.
    Und nun sitzen sie an den Wochenenden beieinander, unsere guten niedergelassenen Ärzte, die viel lieber bei ihren Familien oder Partnern wären, für die sie schon die Woche über keine Zeit hatten. Sie werden überschüttet mit Materialien in Papier und auf CD, sie werden trainiert im Umgang mit Excel-Statistiken, Checklisten und Darstellungen in Powerpoint; und sie bekommen Manuale und Software in die Hand gedrückt, mittels deren man »ganz unkompliziert« das Chaos einer nichtzertifizierten Praxis in eine moderne, nachgewiesenermaßen effiziente, »kunden«freundliche Praxis verwandelt. Da es gewissermaßen zur emotionalen Grundausstattung von Ärzten gehört, durch nichts wirklich erschüttert werden zu können, haut sie auch das nicht um.
Brigitte und das System
     
    Sollte es aber. Nehmen wir den Fall von Dr. Hans Müller (58), der seit fast 30 Jahren eine Landarztpraxis in der Nähe von München betreibt. Aus Kostengründen gibt es neben ihm (und der kostenlos bis in die Nachtstunden mithelfenden Ehefrau) nur noch Frau Leitner, seit 20 Jahren seine Praxishelferin. Von Frau Leitner sagt Dr. Müller: »Sie ist ein einzigartiger Glücksfall.« Sie kennt ihr Metier aus dem Effeff, ist eine echte Anlaufstelle und Vertrauensperson für die Patienten, und vor allem: Sie hält Dr. Müller den Rücken frei für die eigentlichen ärztlichen Aufgaben. Würde Dr. Müller jetzt seinen gesunden Menschenverstand zu Rate ziehen, würde er sich sagen: Was soll dieser permanente Abgleich auch noch der geringstenund unbedeutendsten Vorgänge in einer Praxis, die eigentlich nur aus zwei Menschen besteht? Menschen, die seit Jahren aufeinander eingespielt sind und ihre Prozesse bis zum Gehtnichtmehr optimiert haben? Mich erinnert das immer an den Witz von dem Pastor, der auf die Kanzel geht und mit den Worten »Liebe Gemeinde« zu predigen beginnt. Die Gemeinde besteht aber nur aus einer einzigen älteren Dame; sie sagt zum Pastor: »Sie dürfen auch Brigitte zu mir sagen!« Meine Empfehlung für Ärzte, an die mit hochtrabendem Geschwurbel »Qualitätssicherung« herangetragen wird: Sagen Sie »Brigitte!« – und lächeln Sie. Humor ist das Einzige, was die Profiteure des Systemwechsels nicht auf der Rechnung haben.
    Im Ernst: Wem dient es, dass von nun an Woche für Woche Stunden um Stunden aufgewandt werden müssen, um die banalsten Details zu dokumentieren und in eine standardisierte Form zu bringen? Der Seufzer »Das ist Brüssel!« ist dabei wenig hilfreich. Das ist nicht Bürokratie um der Bürokratie willen. Es geht gar nicht um edles Interesse an der Anhebung der Qualität ärztlicher Leistungen und ihre Überprüfbarkeit – es geht vielmehr um einen raffinierten Einbruch in die Autonomie des freien Arztes; es geht um Herrschaft, um Machtübernahme. Es geht um die »gläserne Praxis«. Die informationelle Waffe »Qualitätssicherung« wird auf ihn in Anschlag gebracht. Der freie Arzt wird zur Übernahme präpariert. Er ist schon jetzt nicht mehr Herr im eigenen Haus. Das »Büro« greift durch bis zur Normhöhe der Klopapierhalterung. Die neue Herrschaft hat neue Wörter, die man erst lernen muss. Das harmlose Wort »Qualitätssicherung«, das in anderen Zusammenhängen seine Berechtigung hat, ist ein solches Wort.
    Aus anderen Branchen kennt man den Charakter der Zertifizierung als Waffe schon längst. Wer die Qualität definiert, wer zudem dafür sorgt, dass nur der am Markt bleibt, der die Vorgaben erfüllt, definiert

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