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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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Medikamente zu bekommen, kämpfen Ärzte um ein Sauerstoffgerät für Todkranke und müssen Eltern von behinderten Kindern den Klageweg beschreiten, um einen Rollstuhl, eine Gehhilfe, ein Korsett oder eine Operation genehmigt zu bekommen. Hunderttausende von Patienten werden nach dem Motto »Unsinn für alle« durch die Mühle unangebrachter Diagnoseverfahren geschickt, nur damit sich die angeschafften Geräte amortisieren; den wirklich Kranken aber zeigt das System die kalte Schulter. Den echten Kranken fehlt es am Nötigsten. Sie sind für das sich selbst erhaltende System uninteressant. Sie sind der Ausschuss der industrialisierten Massenmedizin.
    Was mich im Moment menschlich am meisten beschäftigt, ist das Schicksal der vielen Krankenschwestern und Pfleger, die sich hingebungsvoll um uns Patienten kümmern. Wo Konzerne operieren, geht es immer um Kosteneinsparung. Jeder Betriebswirt weiß, wo man da ansetzen muss: am Personal. Schon heute sind die Arbeitsbedingungen dieser Leute eine einzige Katastrophe. Man holt das Letzte aus ihnen heraus. Ihre Bezahlung ist miserabel. Aber das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht erreicht. Wo die Konzerne am Werk sind, fallen als Erstes die gewerkschaftlich vereinbarten Tarife und werden durch sogenannte Haustarife ersetzt. Die Folge: Krankenschwestern und Pfleger befinden sich im freien Fall – in Richtung Prekariat. Wo der Mensch wertlos wird, werden die auch wertlos, die sich mit Herz und Hand um den Menschen kümmern. Aber wir Patienten wissen, was wir an unseren Krankenschwestern und Pflegern haben. Wir werden sie nicht im Regen stehenlassen.

KAPITEL 4
Eine Waffe namens Bürokratie – oder:
Machtübernahme in der gläsernen Praxis
     
    D ass wir in einem neuen Europa leben, erkennen wir Bürger an zwei Phänomenen: am Euro und an der »Bürokratie«. Es scheint, als habe Europa die Bürokratie erst erfunden. Das, was es vorher unter gleichem Namen gab, war ein Klacks gegen die monströse Regelungswut, die der Brüsseler Apparat entfaltet. Doch täusche sich niemand: »Bürokratie« (also die Herrschaft durch das Büro, den Apparat, die Verwaltung) ist nicht die versehentliche Zulassung von Schikanen durch Zwangsneurotiker im Amt – Bürokratie ist politisches Kalkül. Kein Mensch ahnte, was das sein sollte, als von Brüssel aus eine Normierungswut namens ISO 9000 (ff.) über Europa hereinbrach.
    Entwickelt wurde die Idee von qualitativen Standardisierungen beim Militär, speziell im Bereich von Waffenbau und -beschaffung – und genau danach muss man heute die eigentliche Intention jener staatliche Bürokratieverordnungen und Maßnahmen zur Implementierung von Qualitätssicherung beurteilen, die gerade über unsere niedergelassenen Arztpraxen hereinbrechen – an ihrem
Charakter als Waffe
.
    Wer die Dinge regelt, hat die Macht. Wo Regeln sind, muss die Einhaltung der Regeln kontrolliert werden. Das Wort »Qualitätssicherung« (in der Arztpraxis), das so harmlos und edel daherkommt, ist in Wahrheit ein Wort aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Es ist eine der effizientesten Waffen, die es gibt. Ich nenne sie eine informationelle Waffe (warum, erklärt sich aus dem Folgenden). Diese Waffe richtet sich gegen den freien, niedergelassenen Arzt. Der Clou an der Geschichte: Die Ärzte dürfen die Waffe, die sie mit tödlicherPräzision erlegen wird, auch noch
kaufen
. Nichts ist umsonst, nicht einmal der eigene Tod.
Der Stempel auf der Stirn
     
    Aber warum denn das? Gute Arbeit leisten, »Qualität« garantieren – das möchte doch jedermann. Bei diesem Ehrgeiz packt man die Ärzte. Stolz sollen sie sein, wenn sie Qualitätsmanagement betreiben, wenn sie ihre Leistung messen, sich zertifizieren lassen und ein Schild an die Praxistür heften können: Geprüfte Qualität. Und ökonomisch soll es sich obendrein auszahlen, wenn die Patienten zu ihnen (nicht zu ihren nichtzertifizierten Kollegen) strömen, denn an Ort und Stelle wird ihnen ja garantiert: Hier kuriert kein Krauterer und Quacksalber, sondern ein richtiger, nämlich »geprüfter« Arzt – einer mit Stempel auf der Stirn.
    Dafür, suggeriert man dem Arzt, musst du schon ein bisschen in die Tasche greifen – so ca. 3000 Euro für die Zertifizierung, und das alle drei Jahre, das sollte es dir schon wert sein! Hm – und der Gegenwert? Dafür kommt man nach erfolgter Zertifizierung auf die »Liste« und darf sich eine Zertifizierungsurkunde ins Wartezimmer hängen. Weitere Zahlungen sind fällig, wenn die

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