Der verkaufte Patient
sie beim Hausmeister an, der wundert sich, als ich mit ihm das Bett, in dem meine Mutter liegt, der Breite nach abmesse – und mit den notierten Maßangaben in die Kapelle eile:
Super, passt!
Am Freitag informiere ich die Stationsschwester von meinem Vorhaben. Großes Staunen: Mit dem Bett in die Kirche? Mit meiner natürlichen Autorität schaffe ich es, das »Nein, geht nicht« aufzuheben. Der zuständige Pfarrer muss allerdings informiert werden. Nanu, das war ja noch nie da!
An Pfingsten, 8.00 Uhr, nimmt nicht nur meine Mutter im Krankenbett am Gottesdienst teil. Auch ihre Zimmernachbarin darf natürlich nicht fehlen.
Dienstag nach Pfingsten werde ich zum Arzt bestellt. Er drückt mir kurzerhand eine Liste mit drei Adressen in die Hand. »Hier, suchen Sie für Ihre Mutter ein Pflegeheim aus!« – »Pflegeheim? Kommt nicht in Frage!« Der Arzt lächelt wissend: »Tun Sie sich das nicht an! Sie haben Kinder! Das würdeihr Leben fundamental verändern. Das können Sie nicht. Ihre Mutter ist schwerstpflegebedürftig. Sie wird maximal noch ein paar Wochen leben.« – »Trotzdem! Wann wird sie entlassen?« – »Morgen. Hören Sie …« Ich ließ mich auf nichts ein, ließ den Arzt stehen: »Ich muss nach Hause, die Vorbereitungen treffen!« Unter dem Kopfschütteln des Arztes verlasse ich das Zimmer.
Auf dem Flur holt mich ein junger Arzt ein (ein Italiener, wie sich später herausstellen sollte), der zufällig Zeuge unserer kleinen Auseinandersetzung geworden ist. Er tippt mir von hinten auf die Schultern.
»Sie sind keine Deutsche!«
– »Doch – warum?« – »Jede Deutsche nimmt die Liste und geht zum nächsten Münztelefon!« Ich wittere die gleiche Wellenlänge: »Sie kommen mir gerade recht. Wollen Sie mir helfen?« – »Aber gern!« Er lacht. »Wie komme ich am schnellsten an so ein Spezialbett mit Dreh- und Kippmechanismus – Sie wissen schon!?« In zwei Minuten weiß ich alles.
Der Hausarzt spielt mit. Die Krankenkasse zunächst nicht. Erst heißt es »unmöglich«, dann »in vier Wochen«. Am nächsten Morgen hole ich das Bett ab. Wo ein Wille ist, gibt’s auch ein Bett. Mann und Kinder haben inzwischen längst die Logistik geregelt. Unser Schlafzimmer kommt in den ersten Stock; aus dem Raum wird das Krankenzimmer meiner Mutter. Um es wohnlich zu machen, holen wir einen Teil ihrer vertrauten Möbel aus ihrer Wohnung in Lindau. Ich feilsche mit dem Arzt: »Einen Tag länger, ja? Wir haben das Zimmer noch nicht fertig!« Er resigniert lächelnd.
*
Meine Mutter konnte es nicht fassen. In der Haustür roch sie schon ihr Lieblingsessen. Wie staunte sie erst, als sie »ihr Zimmer« sah. Ich bin mir sicher, es war einer der glücklichsten Momente in ihrem Leben – wie überhaupt die darauffolgende Zeit so erfüllend und dicht wurde wie kaum eineandere Phase unseres gemeinsamen Lebens. Sie war völlig integriert in das Leben unserer Familie.
Sie lebte noch drei Jahre und vier Monate. Es war für alle keine leichte Zeit. Ohne oft tägliche Hausarztbesuche und Unterstützung von der Sozialstation hätten wir es nie geschafft. Heute denke ich oft daran, was geschehen wäre, hätte man damals schon die Vision »MVZ« (Medizinische Versorgungszentren) realisiert. Das Pflegeheim wäre die unausweichliche Alternative gewesen.
FALL 6: Entwürdigende Prozedur
Am schlimmsten ergeht es Patienten, die darauf angewiesen sind, dass sie oder ihre Angehörigen regelmäßig bestimmte Heil- und Hilfsmittel verordnet bekommen. Da sind zum Beispiel die Eltern, die ein Kind mit einem offenen Rücken oder einem Down-Syndrom haben. Genauso betrifft es Schädel-Hirn-Patienten, Alzheimer-Kranke, Epileptiker, Parkinson-Patienten, Rheumakranke, MS-Leidende, Körper- und Mehrfachbehinderte, Diabetiker usw. Sie alle kennen den Marathon von Arzt zu Arzt. Dr. Rainer van Elten hat erschütternd dokumentiert, wie behinderte Kinder und Erwachsene und andere chronisch kranke Patienten notwendige Therapien wegen der Angst der Ärzte vor Regressforderungen oft nicht erhalten. Mir liegen Berge von Unterlagen vor, in denen Kranke, betroffene Eltern oder Angehörige von Kranken den real existierenden Wahnsinn beschreiben.
Der Vater eines kleinen Jungen (7) erzählt: »Anfangs dachten wir, bei seinem Krankheitsbild (Down-Syndrom, Epilepsie und erhöhte Infektanfälligkeit) dürfte es keine Schwierigkeiten geben … mein Sohn ist ja auch zu 100 % schwerbehindert. Fehlanzeige! Bei dem ersten Arzt … wollten wir Krankengymnastik
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