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Der verkaufte Patient

Titel: Der verkaufte Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Hartwig
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verschreiben lassen, haben diese dann auch bekommen, bis sein Budget erschöpft war. Da haben wir dannden Arzt gewechselt. Dieser Arzt hat dann immer nur 3-mal Krankengymnastik verschrieben, obwohl mein Sohn regelmäßig Krankengymnastik braucht. Da dieser Arzt nicht bei uns im Ort wohnt (ca. 20 km entfernt), sind wir also alle 1–2 Wochen diese Strecke gefahren, um das Rezept zu bekommen … Sein Nachfolger war dann nicht so kooperativ …«.
    Ähnlich erging es dieser Mutter: »Als unsere Ärztin geschlossen hatte, habe ich mir eine andere Ärztin aus meinem Stadtgebiet gesucht und der Sprechstundenhilfe von Manuels Autismus berichtet. Nach einer Woche kam plötzlich der Anruf, dass sie mein Kind nicht mehr aufnehmen könne, da zu viele Neugeburten da seien. SELTSAM! Dann zur nächsten Ärztin; die verweigerte mir nach dem ersten Rezept eine neuerliche Ausstellung …«
    Erschütternd der Fall einer Frau aus dem Ruhrgebiet, deren Akte mir vorliegt. Am liebsten würde ich diese Akte ungekürzt abdrucken, aber sie sprengt den Rahmen dieses Buches. »Meine Tochter«, so schreibt die Frau, »hat im Säuglingsalter aufgrund einer Infektion eine schwere Hirnverletzung erlitten. In den folgenden Jahren ihres Erwachsenwerdens waren viele medizinische Behandlungen erforderlich sowie mehrere Operationen.« Das Mädchen benötigte seit seinem neunten Lebensmonat permanent Krankengymnastik, denn »nach wie vor ist es ihm unmöglich, selbständig Bewegungen auszuführen«. Man sollte meinen – das müsste unser Gesundheitssystem auch leisten können.
    In Wahrheit wurde es für die Eltern zu einem wahren Hindernislauf, an notwendige Verordnungen und Heilmittel heranzukommen. In der Korrespondenz mit der Kasse beklagt sich die Mutter: »In den letzten Jahren ist nicht nur der Ton, obwohl verbindlich, ein anderer geworden. Wir sind zu Bittstellern degradiert worden. Die Sachbearbeitung wechselt bei jedem Antrag. Ansprechpartner sind immer wieder andere – und sitzen in Duisburg, Bochum oder Hamburg … Inzwischen musste ich feststellen, dass alle Hausärzte und auch Fachärztein unserer näheren Umgebung keine Möglichkeit mehr sehen, A. die nötige Verordnung zu geben. Denn trotz der intensiven Behandlung in der Vergangenheit ist es zu Kontrakturen ihrer Gelenke gekommen. Um wenigstens den Status quo halten zu können, ist nach Meinung der behandelnden Ärzte weiterhin regelmäßig fachlich fundierte Krankengymnastik erforderlich …«
    Erfreulicherweise ließ das Servicezentrum der Techniker-Krankenkasse in Bochum die Katze aus dem Sack. In Gestalt eines Briefes ließ man die Mutter des armen Kindes wissen: »Grundsätzlich müssen Leistungen, die zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, nach den Maßgaben des § 12 Absatz 1 SGB V (Sozialgesetzbuch Teil 5) ›ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich‹ sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten …« Was heißt notwendig? Ein weiser Mann hat das Wort erklärt: Es heißt dem Wortsinn nach »die Not zu wenden«. Und genau das passiert nicht mehr. Welche Politiker lassen sich Gesetze einfallen, die solche Folgen für behinderte Menschen und chronisch Kranke zeitigen?
    Für die Kasse hat sich der Fall A. inzwischen erledigt. Die Frau musste der Kasse mitteilen: »Leider ist meine Tochter im April (2007) verstorben.« Die Kassenärztliche Vereinigung bedauert drei Monate nach dem Tod: » … dass Sie Ihre Tochter verloren haben«. Zwei Sätze später bekommt die trauernde Mutter noch einmal den ganzen Zynismus des Systems zu spüren: »Bei seiner Entscheidung hat sich der Arzt streng an das Wirtschaftlichkeitsgebot zu halten. Er darf nur Leistungen erbringen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind und die das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die Einhaltung dieses Gebotes durch den Arzt wird durch spezielle Prüfungsinstanzen überwacht.«
    Wir haben verstanden: Nach SGB V geht Wirtschaftlichkeit vor Menschlichkeit, Nutzen vor Würde, Kalkül vor Anstand. Wir leben in einem unanständigen Land. Wie sich nämlichdie Qualität eines Bildungssystems daran zeigt, in welchem Maß es die Schwächsten fördert, so zeigt sich die Güte eines Gesundheitssystems daran, wie es mit den wirklich Kranken umgeht. Zur selben Zeit, in der eine kranke Spaß– und Apparatemedizin unser Gesundheitssystem als Wirt für seine metastasenhaften, parasitären Wucherungen missbraucht, laufen sich Rheumakranke die Hacken ab, um ihre

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