Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
ein Teil des Hüggellandes! , schimpfte er. U nd wer soll hier die Säge ziehen, wenn alle Hände Bogensehnen spannen? Von wegen! Nichts da! Du bleibst hier.
In Wahrheit fürchtete er, ich könne nicht zurückkommen und in irgendwelche Kämpfe hineingezogen werden. Ich wäre dennoch gegangen, schon um deinetwegen, denn ich konnte mir denken, dass du in Schwierigkeiten stecktest. Aber er blieb eisern. Umso erleichterter bin ich, dass du den Weg noch rechtzeitig selbst gefunden hast. Aber sag: Ist die Lage denn wirklich so bedrohlich, wie die Postler berichteten? Es kam uns allen übertrieben vor, von Großvater abgesehen. Auch unser Gauvogt nahm ihre Geschichte offenbar nicht ernst und wollte von dem ›Unfug‹ nichts wissen. Herr Gasakan kam des Sonntags aus Dreihorsten herüber, als er von dem Unglück deiner Eltern hörte.«
Finn nickte niedergeschlagen. Er blickte seinen Freund und Vetter lange an, ehe er antwortete: »Schau mich an, Wil. Woher, glaubst du, kommen alle diese Schrammen und Schnitte? In der vergangenen Woche bin ich dem Tod in so vielen abscheulichen Gestalten begegnet! Fast beginne ich, den Überblick zu verlieren. So sah ich eine Vahitfrau, die gefressen wurde. Ich sah einen Broch lichterloh brennen – und alle, die darin waren, kamen um. Noch immer kann meine Nase den widerlichen Gestank verbrannten Fleisches nicht vergessen. Die Nachbarsfamilie von Borath dem Lohgerber wurde gleichfalls getötet. Fliehende Vahitfamilien aus Rudenforst verloren am Mürmelkopf ihr Leben: Väter, Mütter, Kinder – Kinder , Wil! Ich half dabei, ihre Leichname auf einen Wagen zu schichten. Schichten mussten wir sie!« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, ehe er Wilhags Blick erneut erwiderte. »Ein Freund von mir wurde mit Feuer übergossen und flammte auf wie eine Fackel. Ich selbst … und noch jemand, wir entkamen demselben Feuer nur knapp. Und – nein, an den Criarg will ich jetzt nicht einmal denken!
Circendil, der Mensch, den du an meiner Seite sahst … er kämpfte gegen etliche Feinde, tötete viele und wurde selbst verwundet. Ich befand mich so oft in Lebensgefahr, dass ich es nichtmehr zählen kann. Und das alles geschah lediglich als Vorgeplänkel. Das alles war nicht mehr als eine beiläufige Begebenheit beim allmählichen Näherrücken eines Feindes, dessen wahre Macht wir uns nicht einmal vorstellen können.
Ob die Lage bedrohlich ist, fragst du? Nein, Wil, sie ist nicht bedrohlich. Sie ist viel furchtbarer als das. Denn mit jeder Stunde nähert sich der Zeitpunkt, da der Feind wirklich zuschlägt. Er wird mit uns Vahits machen, was immer er will. Ich will es niemanden außer dir verraten: Nur ein Einziger von ihnen trägt die Schuld am Leid meines Vaters. Und am Tod meiner Mutter! Die nur deshalb sterben musste, weil dieser Eine zur Unzeit des Weges kam.
Die Lage? Sie ist nahezu aussichtslos, wenn du es wissen willst. Diejenigen, die dem Aufruf folgen und nach Mechellinde gehen … Sie alle werden Bögen und Pfeile erhalten, mit denen sie kämpfen sollen. Kämpfen! Oh ja,« lachte er bitter. »Das werden sie. Sie werden kämpfen. Einige Minuten lang oder vielleicht eine halbe Stunde. Dann wird der Kampf auch schon vorüber sein, und wer dann noch lebt, wird fliehen. Falls es eine Flucht gibt. Opa Hámlat hatte wahrlich Recht, dich hier zu behalten. Du wärest kaum zurückgekommen.«
»Das ahnte ich nicht«, sagte Wilhag bestürzt. »Dann … dann seid ihr jetzt auf der Flucht?«
»Was? Nein.« Finn lächelte schwach, trotz all seiner Niedergeschlagenheit; es war nicht viel mehr als ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel, aber es wärmte ihn mehr, als es das Feuer vermochte. »Noch hat der eigentliche Angriff nicht einmal begonnen. Wir eilten, Wil, aber es ist keine Flucht.
Wir sind – nein, entschuldige, es ist eine sehr lange Geschichte, und ich erzähle dir alles gerne später, aber nicht jetzt. Vielleicht heute Abend. Oder morgen, wenn uns die Zeit gegeben wird. Jetzt bringe mich bitte zu meinem Vater. Ich habe es lange genug vor mir hergeschoben.«
Schweren Herzens stand er auf.
Aber ehe er ging, überzeugte er sich, dass es seinem Schutzbefohlenen wohlerging. Für einige Augenblicke stand er über Inku gebeugt, und nun stahl sich ein wirkliches Lächeln auf sein Gesicht.
»Schau«, sagte er zu Wilhag. »So klein. Seit gestern erst ist er bei mir, und er vertraut mir völlig. Er hat in der kurzen Zeit mein Herz erobert, wie man so sagt. Ich mag ihn
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