Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Finn. Habe ich je ein Versprechen gebrochen? Ich habe mich eurer Sache nun einmal angenommen, und so ist sie damit zur meinigen geworden. Ich bleibe bei euch. Ich werde der erste Davena sein, der dies seit Beginn unseres Ordens wagt. Aber ich werde in diesem Jahr nicht nach Daven zurückkehren! Und unter Umständen niemals mehr, denn vielleicht hast du Recht. Wer weiß, ob es im nächsten Jahr den Orden oder das Kloster überhaupt noch gibt.«
»Entschuldige«, sagte Finn. »Ich rede vermutlich wirres, törichtes Zeug. In meinem Kopf geht es drunter und drüber. Für einen Moment, da dachte ich, du würdest … verzeih! Wir dürfen aneinander nicht zweifeln. Und doch wird mir mein Herz schwer, so gänzlich schwer. Mein Herz! Es ist nicht annähernd groß genug für die Hoffnung dreier Königreiche. Es ist nicht einmal groß genug für die Hoffnung eines einzelnen Vahits und ein kleines bisschen Lebensfreude darin an der Seite von Ta… von irgendwem. Wenn Hoffnung Tropfen sind, Circendil, dann gehen meine allmählich zur Neige.«
»Ein trauriges und dennoch ein schönes Bild. Denn es besagt zugleich, dass immer noch Tropfen vorhanden sind. Auch wenn sie zur Neige gehen: Noch gibt es welche.«
Er richtete sich auf und sagte:
»Ja! Die Tropfen der Hoffnung gegen die Tränen der Qual! Lass dies unser Wahlspruch sein. Noch ist nicht alles verloren, Finn. Noch ist die Gluda, die letzte freie Gilwe, nicht gefunden. Aber wir können sie womöglich finden. Denn nie waren wir einer Spurvon ihr so nahe. Und darin mag eine Bedeutung liegen. Komm, da ist Mellow mit frischen Ponys. So heißt es denn Abschied nehmen, für eine kleine Weile. Bleibe standhaft! Wir kommen so rasch es geht zurück. Mit guten Nachrichten und neuer Hoffnung. Das sagt mir mein Herz. Du wirst es sehen!«
11. KAPITEL
Das Fenster zum Sturz
E INE HALBE S TUNDE SPÄTER fand Finn sich im großen Haus der Taubers wieder. Seine Ankunft war eigenartigerweise nahezu unbemerkt geblieben. Er saß, müde und kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig, an einem Tisch in einem kleineren Zimmer im Obergeschoß vor dem Kamin, in dem ein behagliches Feuer brannte. Inku hatte sich davor auf seiner Decke zusammengerollt und blinzelte träge in die tanzenden Flammen.
Niemand war bei ihnen, aber Finns Vetter Wilhag hatte versprochen, in Kürze zurück zu sein.
Wil hatte Finn wenige Minuten zuvor auf den Hof reiten sehen. Sogleich war er herausgekommen, um ihn zu begrüßen.
Es war ein trauriger Moment gewesen, in dem sie einander nur stumm umarmt hatten. Gemeinsam hatten sie Smod im Stall untergebracht, ihn abgerieben und mit allem versorgt, was er benötigte. Anschließend waren sie in das Hauptgebäude hinübergegangen, durch einen sich längs des Hauses ziehenden, dunklen Flur, um die in seiner Mitte gelegene breite Treppe hinaufzusteigen. Ein paar Verwandte waren ihnen unterwegs begegnet, aber nur im Vorbeihuschen und ohne sie wirklich zu bemerken: zur einen Tür hinaus, zur anderen wieder hinein; tripp-klapp, trapp-klipp, und weg waren sie.
Im Tauberhaus lebten derzeit vier Generationen unter einem Dach, und dementsprechend viele Räumlichkeiten verteilten sich unten wie oben beiderseits der verwinkelten Flure. Das größte Zimmer war das Esszimmer im ebenerdigen Geschoß zur Linken, mit einem mächtigen Kamin und geschnitzten Balken.
Als sie daran vorübergingen, drang trotz der geschlossenen Türen ein schwirrendes Durcheinander von schwatzenden Vahitstimmen heraus. Das halbe Dorf war zweifellos zugegen, um den Taubers (und vor allem natürlich Furgo) ihre ehrerbietige Aufwartung zu machen – und um an Amafilias Leichenschmaus teilzunehmen; eine wichtige und bei aller Trauer gern wahrgenommene Pflicht.
Tellergeklappere und emsiges Rumoren aus der Küche drangen immer noch durch die Wände, obwohl die eigentliche Mahlzeit schon längst vorbei sein musste. Türen schlugen unten wie oben, und immerzu schien irgendwer nach irgendwem zu rufen. Mal hörte man lautes, dann wieder gedämpftes Kindergeschrei; dem Trommeln nach zu urteilen trippelten wenigstens tausend Füße barfuß, einander jagend, über ferne, knarrende Dielenbretter; die jüngeren Vahits hatte man wohlweislich von den Trauergästen getrennt. Finn lauschte den vielfältigen Geräuschen und lächelte wehmütig; ihm taten diejenigen leid, die man den Vahitkindern zur Aufsicht beigegeben hatte. Inkus feine Ohren spielten, aber er verstand, dass keine Gefahr bestand, solange sein Herr trotz
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