Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
des fernen Lärms ruhig am Feuer saß.
Dann, nach einer halben Ewigkeit, als beide fast eingenickt waren, polterte Wilhag wieder herein, mit einem beladenen Tablett auf den Armen und einem gefüllten Napf für Inku. »In diesem Haus gibt es Futter für hundert hungrige Mäuler«, beschwerte er sich, seine Lasten absetzend.
Er füllte zwei Becher mit dünnem Bier. »Aber nichts findet sich,« fügte er hinzu, »um auch nur einen einzigen Hund satt zu bekommen. Da fiel mir Rohmag Ganter ein. Glücklicherweise besitzt auch er so einen Vierbeiner, als Einziger hier. Er ist unser Nachbar, zwei Häuser die Straße runter, falls du dich erinnerst; er hat immer Fleisch vorrätig für seinen Kläffer.«
Inku kam angetapst, schnupperte und fraß sogleich begierig. Finn, der nur wenig Appetit verspürte, stocherte lustlos auf seinem Teller herum. Wilhag hatte Käse, Brot und Butter mitgebracht, samt einem süßen würzigen Sud aus eingelegten Sonnenblumenkernen und Wiesenkräutern, und als Nachtisch ein Stück eines ofenwarmen Apfelkuchens, dessen verführerischer Duft das ganze Haus durchzog; doch sobald Finn etwas davon in den Mund schob, hob sich ihm schier der Magen; nur mühsam brachte er es zuwege, den Bissen hinunterzuschlucken. So saß er nur da und schaute Inku beim Schlingen zu. Wenig später sank der Kopf des Welpen zu Boden. Übergangslos schlief er ein, neben dem Napf, gerade wo er lag. Finn nahm den erschöpften Hund auf und trug ihn zu seiner Decke zurück.
»Wir sind beide müde«, erklärte er entschuldigend, als er sich wieder setzte. Er schob bedauernd seinen nur halb geleerten Teller von sich. »Zu müde sogar zum Essen, fürchte ich. Und ich darf mir noch lange keine Ruhe gönnen. Doch jetzt erzähl mir endlich, Wil: Wie steht es um Papa?«
Wilhag, dunkelhaarig wie die meisten Taubers, war der Sohn von Amafilias Bruder Ewerdarg und dessen Frau Harriata. Er war zwei Jahre jünger als Finn und stand noch in der verantwortungsfreien Zeit seiner Tubertel – ein Umstand, der im Haushalt der Taubers nicht allzu viel galt. Um derart viele Mäuler zu stopfen, brauchte es wenigstens ebenso viele Hände, sei es auf dem Feld oder in der Sägemühle hinter der Scheune.
Die Taubers schnitten dort Bretter zurecht und schreinerten in einer kleinen Werkstatt nebenan Truhen, Tische und Stühle. Die Frauen bemalten viele der Möbel in den frischen, hellen Farben, die die Vahits im Besonderen liebten. Vor allem Blumen erblühten so auf Schränken und Lehnen. Die Werkstatt der Taubers hatte bei weitem nicht den ehrfürchtigen Ruf von Fokklinhand; doch Tauberwerk war unter Schreinern (und Kunden) kein schlechter Name; und ihr Siegel, eine Taube, die auf einem Hobel saß, brauchte sich hinter anderen aus Sturzbach oder Vahindema nicht zu verstecken. Längst war Tauberwerk zur eigentlichen Quelle ihres Lebensunterhaltes geworden.
Die beiden Vettern waren seit ihren Kindertagen miteinander befreundet. Wilhag besaß vier jüngere Geschwister. Er hatte Finn über lange Jahre um dessen Einzelkinddasein beneidet; Finn wiederum hätte seinerseits gerne Geschwister gehabt, und sei es nur, um weitere Fokklins an seiner Seite zu haben, die Furgos Nachfolge bei Fokklinhand hätten antreten können. Stets war er mit seinen Kümmernissen und Nöten allein gewesen, während Wilhag darüber klagte, niemals irgendwann allein sein zu können. Möglicherweise, dachte Finn, war diese wechselseitige Unerfüllbarkeit ihrer Wünsche der Keim ihrer Freundschaft gewesen.
»Nicht gut«, antwortete Wilhag betrübt. Er stürzte seinen Becher, ehe er fortfuhr: »Dabei sind es weder sein Arm noch sein Bein, die mir Sorgen machen. Beides wird heilen, auch wenn’s eine Weile dauert. Aber seine Seele hat gelitten. Was er erlebt hat, muss einfach schrecklich gewesen sein. Ich will sagen, es hat etwas in ihm entzweigerissen. Er ist – ach, was soll alles Drumherumgerede – es gibt jetzt Augenblicke, da ist er ein wenig durch den Wind, wenn du verzeihst. Er … er ist in sich versunken. Er schreckt manchmal auf und fragt, wo er sich befindet. Oder er fragt, weshalb ihm Arm und Bein verbunden seien. Solche Dinge. Er spricht kaum. Weniger als früher, meine ich. Er ist regelrecht einsilbig geworden, und das will bei ihm was heißen, oder? Heute hast du echtes Glück, wenn du eine Antwort bekommst. Manchmal steht er einfach nur da und weint ganz still, ohne es selbst zu bemerken. Dann wieder stiert er minutenlang auf einen Punkt, ohne etwas
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