Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
»Das sagen sie alle, die einsamen Helden. Du wirst sie uns später erzählen, richtig?«
»Das werde ich«, versprach Finn. »Aber du hast mir immernoch nicht berichtet, wie dein Nachdenken dich mit mir zusammenführte.«
Mittlerweile lag der Karstrücken vollständig zu ihrer Linken, und Mellow deutete die Hügel hinunter zu den in der Sonne glänzenden Marschwiesen. Er warf sich in die Brust und sagte würdevoll:
»Ich geruhte, dort unten den Lauf meiner Gedanken auf Euch zu richten, mein ehrenwerter Herr Finn. Mein Nachdenken trug die erwarteten Früchte: Es gelang mir fürwahr, in Kenntnis Eurer Unzulänglichkeiten und Eurem Sinn für Albernheiten und unweisem Entschluss das Richtige zu erkennen.«
»Ha ha«, machte Finn. »Und leider hast du auch noch Recht damit. Du ahnst nicht mal, wie sehr.«
Mellow warf ihm einen fragenden Blick zu. Aber Finn wollte offenbar noch nichts weiter sagen.
»Ehe wir aufbrachen«, fuhr Mellow fort, »schirrte ich Smod aus und sattelte ihn, denn wenn wir auf dich träfen, würdest du ihn brauchen. Circendil suchte und fand derweil deine morgendlichen Spuren. Erst unten am Ufer, dann dort, wo sie sich im Gehölz verliefen. So ließen wir Tallia in der Obhut von Meister Abhro zurück und ritten durch den Wald. Um es kurz zu machen: Der Nebel war inzwischen der Sonne gewichen, und wir konnten weithin sehen. Als wir aus dem Walde brachen, entdeckten wir den Ledir beinahe sofort. Na ja, er entdeckte uns.
Er kauerte bei den Überresten der Windbarke. Er sah und hörte uns und stieß einen gellenden Pfiff aus. Er wurde beantwortet, von hoch droben aus der Luft – ein Criargschrei war es, wie du dir vielleicht denken kannst.«
»Ein Criarg? Aus welcher Richtung sahst du ihn kommen?«
Mellow runzelte die Stirn. »Jetzt, da du es erwähnst, ist es in der Tat merkwürdig. Er kam von Westen her, als flöge er von Moorreet heran …«
»Dann ist er zu ihm zurückgekehrt«, murmelte Finn. »Was geschah weiter?«
Mellow nickte, als ahne er, dass hinter der Bemerkung seines Freundes weit mehr steckte, als dieser für den Moment sagen wollte. »Sein Reittier landete schneller, als wir die Wiesen queren konnten. Wir galoppierten, und er hätte dennoch entkommen können, wenn er es gewollt hätte. Der Ledir indes zögerte – dann nahm er die Herausforderung an.
Circendil befahl mir, in sicherer Entfernung stehen zu bleiben. Er aber sprang von Gwaeths Rücken und stürzte sich mit erhobenem Schwert auf den Fremden. Ihre Klingen prallten klirrend gegeneinander. Beider Eisen schlugen Funken. Selbst Circendil mit all seiner Kampfeskunst musste schnell begreifen, dass er hier an einen Gegner geraten war, der ihm gewachsen, wenn nicht gar überlegen war.
Noch niemals habe ich einen Anderen sich derart flink bewegen gesehen! Das gekrümmte Schwert des Ledirs fuhr singend durch die Luft, flackernd wie Flammenzungen. Es bildete gleichsam einen Wall aus lauter prasselnden Hieben, eine Mauer aus unentwegt blitzendem Metall. Obwohl Circendil es stetig versuchte, gegen diese Mauer kam er nicht an. Zu allem Ungemach trat er in ein Hasenloch und stürzte; er verlor sein Schwert und rollte sich in seiner Not am Boden hin, um aus der Reichweite seines Feindes zu gelangen. Drei, vier Hiebe gingen fehl und fuhren in die Binsen, dass die Erde spritzte. Der Ledir rief etwas oder fluchte.
Da schrie ich ihn an, er solle sich wegscheren. Ich zog mein Wacala und hob es, bereit zum Wurf. Der Ledir sah das und verstand. Wieder zögerte er. Vielleicht überlegte er, ob er Circendil nachsetzen sollte, trotz meiner Drohung. Er entschied sich dagegen und wich langsam zurück. Er befahl seinen Criarg herbei. Uns beide ließ er nicht aus den Augen. Mit einem gewaltigen Satz schwang er sich in den Sattel des Vogels. Er ergriff die Zügel und rief mir etwas zu, das ich abermals nicht verstand. Es klang wütend und höhnisch zugleich. Dann hoben sich die Flügel, und der Criarg trug ihn über den Fluss davon.
Wir blickten ihm nach, bis wir ihn nicht mehr sahen. Bis wir sicher waren, dass er nicht zurückkehrte, meine ich; dann ritten wir kreuz und quer über die Wiesen und suchten nach dir, am Ende gar bis zum Ufer hin. Als wir dich nirgendwo fanden, begann ich zu vermuten, du könntest dich anders entschieden haben. Anstatt zur Schmiede zurückzulaufen, meine ich. Vielleicht warst du querfeldein heim nach Moorreet geflohen, um Verstärkung zu holen oder um dich dort in Sicherheit zu bringen. Wir wussten ja
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