Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Hilfe. Als Miete für den Wagen, meinetwegen. Und nun muss ich wirklich los. Andernorts warten sie nämlich händeringend auf mich, fürchte ich. Halte aus und durch, Abbado. Und rechne nicht mit mir in den nächsten Tagen. Lebe darum wohl, einstweilen. Ich kehre zurück, so rasch ich nur irgend kann.«
Wie leicht sagen sich solche Worte.
So sollte er später noch oft genug denken, wann immer er sich an den Gesellen erinnerte. Denn er sah Abbado Zeisig niemals wieder. Ein Händedruck, ein Lächeln, ein Winken; zuletzt, schon am Gartentor unter dem Schatten der Erlen, ein aufmunterndes Nicken.
Damit ließ er den verdutzten Abbado vor der Tür des Verlore n en Henkels stehen, schulterte die Dwargenaxt und kehrte seinem Zuhause den Rücken.
Ohne jemand anderem als den Gänsen zu begegnen, überquerte er den Bruchdamm, drehte sich am anderen Ende noch einmal wehmütig um und enteilte dann über die Mürmelstraße, während die Mooreichen, die den Mürmelbruchsee umstanden, leise hinter ihm seufzten.
Schon bald vernahm er ihr Säuseln nicht mehr. Der heftige Wind der vergangenen Tage hatte in den letzten Stunden nachgelassen und blies nun als sanfte Brise von Osten; er spielte Fangen mit den Stoppeln der abgeernteten Felder, die sich rechts der Straße erstreckten.
Wenig später machte der Weg eine Kurve, und die Kuppe des nächsten Hügels schluckte ihn von einem Moment zum anderen. Ein mümmelnder Hase unter einer Tanne am Wegesrand erschrak und tauchte im Dickicht einer wilden Hecke unter. Ob das Langohr vor dem plötzlichen Aufblitzen der Axtschneide auf des Vahits Schulter floh oder vor dem unerwarteten und fast unhörbaren Tritt, mit dem Finn über die Hügel schritt, war schwer zu unterscheiden; aber Finn schalt sich ob seiner nachlassenden oder vielmehr mangelnden Unachtsamkeit. Denn erst jetzt bemerkte er den gleißenden Lichtfleck, den das auf seiner Schulter wippende Schneidblatt über Gräser und Buschwerk tanzen ließ, sobald er es der Sonne zuwandte. Dieses Flimmern wird gewiss meilenweit zu sehen sein, dachte er beklommen. Er nahm die Axt herab, wickelte ein Taschentuch notdürftig um die breite Halbmondklinge, betrachtete sein Werk und seufzte. »Na ja«, murmelte er. »Es macht es kaum besser. Jetzt laufe ich mit einer weißen Fahne herum statt mit einem hellen Widerschein. Dunkle Wolken wären jetzt weitaus richtiger. Wo ist ein anständiger Regen, wenn man ihn mal braucht?«
Damit ging er weiter.
Nach einer halben Wegstunde taten Finn beide Schultern weh.Zuerst kam er ganz gut voran; doch mit jedem Schritt drückte ihn der Stiel der Axt mehr und mehr, während ihm der Riemen der vollgepackten Tasche in die andere Schulter schnitt.
Der Tag war warm und freundlich, und über die Hügelkuppen strich ein erfrischender Wind. In den Senken aber und besonders an Stellen, an denen sich die Straße dem Mürmelufer näherte, lauerten zahllose Mücken, die ihn so gierig umschwirrten, als sei er der letzte Vahit auf Kringerdes weitem Rücken. Offenbar war keiner jener besonderen Frösche in Frau Ranas Suppe gewandert, deren Fleisch oder Gift die Mücken fernhielt.
Nach einer abermaligen halben Wegstunde setzten ihm zudem die neuen Stiefel zu. Was als störendes Zwicken begann, steigerte sich allmählich zu beginnenden Blasen. Er versuchte, weder an die Mückenstiche, die Schultern, die Abschürfungen, die Beule an seiner Stirn, die angeschwollenen Füße und die aufgeriebenen Fersen zu denken, und dachte damit natürlich erst recht daran. Dann verfiel er auf den unsinnigen Gedanken, sich mit der Erinnerung an die Froschschenkelsuppe abzulenken, aber das führte nur dazu, dass auch noch sein Magen bedenklich grummelte.
Eine oder zwei Meilen später legte er eine Rast ein, was ein Fehler war.
Nach nur zehn Minuten Ausruhen kam er kaum noch auf die Beine und musste sich förmlich zwingen, die Straße entlangzustolpern. Er war bald soweit, dass er sich Streckenziele setzte, um sich anzuspornen. Nur noch bis zu jener krummen Erle. Nur noch bis zu diesem Felsen dort. Nur noch bis zur nächsten Straßenbiegung.
Was ihm noch vor fünf Tagen als angenehme Reise erschienen war – auf dem Wagen hockend, von Smods gleichförmigem Trab durch die Hügel gezogen –, dehnte sich nun in die Länge und wollte kein Ende mehr nehmen.
»Nie mehr gehe ich ohne Smod irgendwohin!«, sagte er laut. »Wenn du mich hören kannst, Smod – das ist ein Versprechen!«
Natürlich bekam er keine Antwort.
Dabei erinnerte
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