Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
leidend. Seine Augen blickten nicht länger verschwommen, sondern leuchteten klar, und als der Dwarg Finn hereintreten sah, erkannte er ihn und verzog sein bärtiges Antlitz zu einem breiten Lächeln. Er hob die Hand und winkte, wenn auch mit Anstrengung.
Was immer Circendil inzwischen für ihn getan hatte, es schien das Richtige gewesen zu sein, obwohl Finn nicht allzu viel davon sah. Glimfáins Beine steckten unter der Decke. Aber ein eigenartiger, zugleich würziger und süßlicher Hauch wie von Kräutern hing in der Scheune und überdeckte den Wundgeruch sowie den nicht minder strengen Geruch nach Stroh; der Duft kribbelte angenehm in der Nase und war auf eine seltsame Weise wohltuend.
Finn sog unwillkürlich die Luft tief ein, und es war, als kehrten seine eigenen Lebensgeister allein durch das Atmen zurück. Er spürte, wie neue Kraft seine Adern durchströmte, wie seine Schmerzen in den Hintergrund traten und wie ihn eine unerwartete Zuversicht erfüllte, als wäre er aus einem langen Schlaferwacht und blicke nunmehr erfrischt in einen friedlichen Sommermorgen.
Er suchte nach der Quelle des Wohlgeruchs und entdeckte, halb hinter Circendils Rücken verborgen, auf einem weiteren niedrigen Dreibein ein dampfendes Kohlebecken, in dem allerdings keine Kohle glühte. Ein fußgroßer, weißer Stein lag darin, inmitten einer nur fingernageltiefen Flüssigkeit, und der Stein schien heiß zu sein, denn es zischte leise. In dem ölig schimmernden Wasser schwammen Blütenblätter und zerriebene Kräuter.
»Was ist das?«, fragte er Tallia leise.
»Dein großer Freund nannte es Lêndhumá «, gab sie ebenso leise zurück. »Und ehe du fragst, ich wusste es auch nicht: Das soll so viel heißen wie Lindertau. Er brachte alle diese Wurzeln mit und irgendwelche weißblauen Blütenblätter, als er ohne Mellow wiederkam.«
An gespannten Leinen hingen mehrere von Abhros Lampen. Sie tauchten die Scheune in ein gelbliches Licht. Das Stroh ringsum schimmerte wie Gold.
Der Davenamönch saß auf einem Berg aus mehreren übereinanderliegenden Säcken nahe an Glimfáins Lager. Circendil hielt dabei das linke Bein weit von sich gestreckt. Auf zwei ebenfalls zu Sitzen umgewidmeten prallen Säcken vor dem Bett hockten Kampo und Sahaso. Beide trugen ihre neuen grünbebänderten Vogthüte und hatten, wie auch Mellow, ihre Wacalas gegürtet.
Alle Köpfe wandten sich ihnen zu, als Finn, Tallia und Mellow das Krankenlager erreichten.
»Ah, so bist du also wohlauf«, sagte Circendil erleichtert. »Das nenne ich die vielleicht beste Nachricht des Tages. Und Aman sei Dank dafür. Wir machten uns große Sorgen um dich. Indes bliebst du nicht unversehrt, wie ich sehe.« Er deutete auf die rötliche Schwellung an Finns Stirn.
»Es ist nichts«, wiegelte Finn ab und nicht ganz der Wahrheit gemäß. »Na ja, fast nichts: ein paar blaue Flecke und Beulen, die ich wohl verdient habe. Ich hätte vorsichtiger sein sollen.«
»Das hättest du, zweifellos. Hinterher ist man immer klüger. Aber nicht immer wollen Sollen und Können zueinander , so sagt man in Vindland; mal strebt man das eine an, und dennoch geschieht das andere. Zumindest lebst du, was immer dir auch widerfuhr. Mein Herz ist erleichtert. Am Ende ist somit für dich alles gut gelaufen, hoffe ich?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Finn. »Wahrscheinlich habe ich letzten Endes nicht mehr erreicht als, na ja, eure und meine Zeit zu verschwenden. Ihr musstet warten und nach mir suchen, während ich – wie nannte es Abhro? – fortgelaufen bin. Laufen ist in meinem Fall allerdings nicht ganz das richtige Wort. Es waren Flügel im Spiel dabei.«
»Dann hat dich Maúrgin behütet«, brummte Glimfáin von seiner Bettstatt her.
Finn legte die Hand auf den Karbeol. »Ja, das hat sie.«
»So hat sie dich als ihren Herrn anerkannt; mein Gefühl trog mich nicht«, erklärte der Dwarg mit matter Stimme. »Ich spürte, es war richtig, sie dir zu geben.«
»Ihr wisst sicher alle, wovon ihr redet«, meinte Kampo. »Und ich würde gern weiter mit euch schwatzen, aber ich für mein Teil habe einen ganzen Haufen Dinge auf meiner Liste – Dinge, die zu erledigen sind und die es nicht von selber tun. Jedenfalls bist du glücklich wieder aufgetaucht.«
Er hatte ein Notizbuch auf den Knien, klappte es zu und machte Anstalten aufzustehen. »Damit können wir endlich aufbrechen und zu unserer eigentlichen Arbeit zurückkehren. Wir haben uns nur deinetwegen auf die Suche gemacht, falls
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