Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
er sich daran, wie oft er das arme Tier in letzter Zeit allein gelassen hatte.
»Geschieht mir ganz recht«, murmelte er zerknirscht und wankte einen Hügel hoch, um einen Bogen der Straße abzukürzen. An Smods Stelle, dachte er, hätte ich auch kein Wort mehr mit mir geredet.
So trug sein schlechtes Gewissen ein Weiteres zu seinem Unwohlsein bei. Und da er schon einmal dabei war, mit sich selbst ins Gericht zu gehen, machte er sich die bittersten Vorwürfe, einfach und ohne ein Wort davongerannt zu sein und Tallia bei den Schmieden allein und im Ungewissen zurückgelassen zu haben. Sie wird nichts mehr von mir wissen wollen, dachte er, kickte wütend auf sich selbst einen Stein beiseite und humpelte die nächsten Schritte, weil ihm der Zeh wehtat.
Gerade, als er sich nichts sehnlicher wünschte als sein freundliches Pony wieder bei sich zu sehen, um es zu besteigen und mit ihm davonzureiten, um Tallia alles erklären zu können, vernahm er ein leises Schnauben.
Es kam von der anderen Seite des Hügels, und er hörte es nur, weil er eben durch ein Ginstergebüsch auf die Kuppe trat und weit über eine baumlose Wiese blickte, die den diesseitigen Hang hinab bis zur Straße abfiel.
Direkt unterhalb seines Standorts erblickte er einen Reiter, der ein gesatteltes, hellbraunes Pony bei sich führte, das seltsamerweise ledig war. Er selber saß auf einem fast schwarzen Pony und kam die Straße von Mechellinde herauf.
Der Reiter war ein Vahit und trug einen Hut. Einen, an dem ein langes, blaues Band im Winde spielte.
Finn kniff die Augen zusammen, denn er traute kaum dem, was er doch sah.
»Mellow? Wie komm…«
Da lachte er auf, fasste die Axt fester und rannte und stolperte, sich fast überschlagend und mit dem Napf unbeholfen winkend, den Hügel hinunter. »Mellow!«
Der Behütete hielt die Ponys an, und es war wirklich Mellow Rohrsang, der da auf Vankus schimmerndem Rücken saß. Genüsslich kaute er auf einem Strohhalm herum.
»Na, schau mal einer an«, sagte er schmunzelnd und anstelle einer Begrüßung. »Wie ich sehe, hast auch du inzwischen ein Stück Eisen gefunden, das du auf deiner Schulter herumtragen kannst. Willst du damit endgültig unter die Holzfäller gehen?«
»Sehr witzig«, antwortete Finn und nahm Stiel und Tasche von den Schultern. »Nur weil ich ein paar Rohrsangs kenne, wechsele ich nicht gleich das Handwerk. Ich hab auch nicht vor, zurück nach Rudenforst zu gehen, falls du das meinst. Die Gegend ist letzthin etwas in Verruf gekommen, hörte ich, selbst für ehrbare Holzfäller. Die Axt gehört einem Freund, der sie verloren hat, wenn du es wissen willst. Einem Verbündeten, sollte ich wohl eher sagen. Du kennst ihn noch nicht. Er ist kein Vahit, sondern …«
»Glimfáin, weiß schon«, nickte Mellow. »Ich komme eben von der Schmiede.«
»Du warst …? Du weißt …? Wie geht es ihm?«
»Besser, jetzt, wo sich Circendil der Sache angenommen hat.«
»Circendil ist auch hier? Wie kommt es …?«
»Tallia«, erklärte Mellow. »Nachdem du plötzlich verschwunden warst, hat sie das einzig Richtige getan. Sie hat Smod angeschirrt und ist nach Mechellinde gefahren – nicht ganz bis dorthin, denn unterwegs traf sie auf uns. Wir begannen, uns Sorgen um dich zu machen. Und nun nimm mir endlich Smod von der Hand! Siehst du nicht, dass er ganz närrisch ist vor Freude?«
Tatsächlich ließ sich Smod kaum mehr halten.
Er drängte Vanku zur Seite und wieherte einen Laut, in dem alle Liebe und Freude lag, die ein Ponyherz nur fühlen konnte. Die rosafarbene Zunge wischte ungestüm über Finns Wangen und fuhr über seine Stirn, was diesem einen Schmerzenslaut entriss. Leider hatten freudig erregte Hüggellandponys kein Verständnis für Vahitbeulen, und Smod bildete keine Ausnahme. »He, nichtso stürmisch, mein Bester – ja, ist ja gut!« Finn umarmte Smod und struwwelte dem Pony die Mähne.
»Na, wenigstens einer hat mir verziehen«, lachte er.
»Es sieht ganz so aus. Hier, wie üblich hast du nichts dergleichen dabei, da wette ich!« Mellow streckte Finn ein Büschel Mohrrüben entgegen, und Smod fraß sie mit sichtlichem Behagen. Seine Welt war wieder in Ordnung.
»Es scheint ganz so«, meinte Mellow, während Finn die Axt, die Tasche und den Napf an Smods Sattel befestigte, »als hätte das Schicksal uns Vahits dazu auserkoren, unseren großen Freunden ihre Waffen nachzutragen.«
»Ja«, gab Finn ihm Recht. »Und als habe das Schicksal die Großen ihrerseits
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