Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
klar, wie er sich nichts sehnlicher als genau das von Herzen wünschte. Er fühlte, wie sein Gesicht rot anlief und hoffte, die Dunkelheit würde es gnädig vor ihr verstecken.
Tallia hörte auf, ihn mit den Fingerspitzen zu kämmen, behielt ihre Hand aber an seiner Wange. »Um mich zu verlieren, Finn …«
»Ja?«
»Um mich verlieren zu können, meine ich, müsstest du mich dazu nicht zuvor erst einmal – gefunden haben?«
»Habe ich das nicht?«, fragte er verwundert. Immerhin war er ihr durch den Wald nachgerannt und hatte sie am Ende wieder aufgespürt. Oder meinte sie gar …?
»Doch, mein Lieber, das hast du«, sagte sie, zog seinen Kopf zu sich heran und küsste ihn.
Wenige Minuten später lief er los und in einen matten und oft kaum wahrnehmbaren Sternenschein hinein. Dünne Wolkenschlieren glitten unter dem Himmelszelt vorüber und erschwerten mal mehr, mal weniger die Sicht. Was man denn so Sicht nennen wollte. Oft streckte er die Arme weit vor sich, um nicht aus Versehen an einen Baum zu stoßen oder sich in einem Busch zu verheddern. Die Binsen raschelten zu seinen Füßen.
Der Wald, durch den er gekommen war, lag nun zu seiner Linken. Er hoffte, er würde nicht zu weit nach links geraten, wo er den Saum in einigen hundert Klaftern Entfernung vermutete. Den Wald mitten in der Nacht zu durchqueren getraute er sich nicht. Unter den Bäumen würde es vollständig finster sein, und der Gedanke an das dichte Unterholz verbot ein solches Unterfangen sowieso von selbst. Und ob er die von Glimfáin gepflügte Schneise wiederfinden würde, bezweifelte er. So hielt er sich möglichst rechts von den tieferen Schatten.
Finn wusste den Fluss hinter sich. Bis zur Mürmelstraße konnte es im rechten Winkel zum Ufer nur wenig mehr als eine Meile sein, rechnete er. Er hatte vor, zunächst bis zur Straße und auf ihr nach links bis zu Abhros Stichweg zu gehen, um von dort zurück zur Schmiede zu laufen. Solange er sich also südwestlich hielt, musste er die von Moorreet herabkommende Straße früher oder später berühren.
Schon bald hörte das Quietschen der Gräser unter seinen Stiefeln auf. Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen anstieg. Er lief den Hügel hinan und von da an nur noch über trockenen Grund. Hier oben hatte es nicht geregnet – oder richtiger, bis hierher hatte der Zauber der Gilwe nicht gereicht. Denn wie ein Zauber erschien es ihm, was er in dieser Nacht erlebt hatte.
» Zauber! Na bitte! Jetzt habe ich es doch gedacht,« murmelte er. »Und das gilt nicht nur für die Gilwe.«
Ob es wahr ist, dachte er, oder habe ich das alles nur geträumt? Hatte er sich den Kuss vielleicht nur eingebildet; ein Wunschtraum seiner Seele, und in Wahrheit war gar nichts geschehen?
»Nein, mein Lieber«, grinste er in die Dunkelheit. »So leicht kommst du mir nicht davon.« Von wegen! Noch immer meinte er den Geschmack ihrer Lippen auf den seinen zu spüren, süß wie Erdbeeren waren sie und weich wie … wie … Ihm fiel kein passender Vergleich dazu ein. Es war ja auch völlig gleich.
Sein Herz hüpfte bei dem Gedanken an Tallia, und eine Glut, die er nicht gekannt hatte, erfüllte ihn. Ja, sie hatten einander geküsst. Die Erinnerung daran, und die überwältigende Erfahrung, gerade erst dem Tod entronnen zu sein, vermischten sich zu einem Gefühl, das er nicht einmal entfernt in Worte fassen konnte.
Die Glückseligkeit, die er vorhin in Tallias Armen empfunden hatte, drohte, ihn erneut zu überschwemmen, kaum dass er an sie dachte. Er blieb stehen und atmete tief bewegt ein. Tiefer und noch tiefer sog er alles Lebendige in sich hinein, das in der Luft lag, im Wald und auf dem Feld und allenthalben, bis seine Brust schier zerspringen wollte. Aber die gleichzeitige Sorge um sie und sein Mitgefühl für den schwer verletzten Dwarg wogen stärker; beide Empfindungen schoben sich jäh in den Vordergrund, gaben seinem Glück einen Dämpfer und beschleunigten sogleich wieder seine Schritte.
»Beeil dich, Finn«, ermahnte er sich.
Je eher er wieder bei ihr war, umso besser. Aber er konnte esnicht verhindern: Vor seinem inneren Auge sah er sie immer noch stehen, wie sie ihm wehmütig nachblickte. Sie kam ihm plötzlich klein vor, viel kleiner, als sie in Wirklichkeit war. Neben sich die dunkle, unförmige Hülle des Dwargenmantels, unter der Glimfáin schwer atmend lag und litt. Über sich die nackten, verkrümmten Äste der Krüppelkiefer, die sich zu einer absonderlich verdrehten und
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