Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
zurückfallen, als hätte sie jemand gegen die Lehne gestoßen, und eine Haarsträhne rutschte ihr über die Augen. Mit so einer Eröffnung hatte ich am wenigsten gerechnet.
»Das tut mir leid«, sagte ich mit Nachdruck.
»Ich will kein Mitleid«, entgegnete sie. »Ich glaube nicht ans Mitleid anderer, und seit Walli sich umgebracht hat, werde ich den Gedanken nicht los, dass ich zu viel ertragen habe. Angefangen bei dieser Überlegenheit, mit der er mich erziehen wollte, bei der Verachtung der Schwester und der Selbstgefälligkeit der Tochter. Ein Häufchen Scheiße. Und jetzt kommen Sie mit Ihrer Geschichte, und alles wird mir klar. Bis über den Tod hinaus hat er mich ausgenutzt. Die Hansens und die Rizzis, die Hansens und die Rizzis«, wiederholte sie und schüttelte ihr Haar, »haben meine Naivität missbraucht, haben mich gezwungen, ihren schrecklichen Hochmut zu ertragen. Sieh an, Walli war also am Ende, vollkommen am Ende, und ich dachte, ich wäre schuld!«
Sie stand auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Eine verrußte Mauer und ein Baumwipfel waren zu sehen, ein Sonnenstrahl streifte ihre Sommerhose. Aus unerfindlichem Grund musste ich anein Hopper-Bild denken. Eine Frau und ein Fenster, mehr war es womöglich nicht, und ihre Blöße.
»Hat er Ihnen von mir erzählt?«, fragte sie plötzlich, ohne sich umzudrehen. Sie fuhr mit dem Finger über die Scheibe und fügte hinzu:
»Ich wüsste gern, was er gesagt hat.«
Mir fiel der Brandfleck auf der Sessellehne ein, der Siegellack mit eingeprägter Wappenlilie, der ihn bedeckte, und ich sagte, er habe immer wieder von ihr gesprochen, wie von jemandem, der einem nahesteht.
»Aber was genau hat er gesagt?« Sie ließ nicht locker.
Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur einen Teil des Profils, umrahmt vom roten Haar. Doch ich hörte die Dringlichkeit heraus, ihr Bedürfnis, nun vielleicht das gleiche Lob, die gleiche Kritik zu hören wie von anderen Männern, die sie besessen hatten, als wüsste sie einfach nicht, welche Bruchstücke ihres Lebens sie sich bewahrt hatten, so dass sie nun vergleichen wollte. Hansen hatte von der Inkonsequenz ihrer Eitelkeit geredet, und vielleicht hatte ich sie gerade vor mir, in dieser Konzentration, mit der sie den Blick auf der Araukarie ruhen ließ, die die Häuserwand emporwuchs.
Ich tat ihr den Gefallen, den ich Verónica nicht hatte tun können. Ich erfand für Nina falsche Erinnerungen, die sie dankbar annahm, nur hier und da ein Detail beisteuerte, das ich womöglich vergessen hatte, belanglos vielleicht, aber wichtig für sie, und als ich wieder auf der Straße stand, war mir, als wüchse Hansens Geheimnis mit jedem meiner Schritte. Steckte ein Betrug dahinter, wie Nina vermutet hatte? Oder hatte er ein Delikt gegen sich selbst begangen, wie Wanda gesagt hatte? Oder nur das einzig Richtige getan, wie Verónica meinte? Drei unvereinbare Dinge.
Am nächsten Nachmittag fuhr ich im Bus vorbei an Weinbergen und Gehöften, an verlassenen Schuppen, an Feldern mit Mohrenhirse, an Weilern mit Namen von Dörfern und Dörfern mit Namen von Städten. Ergeben fügte sich mein Nacken der Rückenlehne, und ich ergab mich dem Fenster. Womöglich versetzte die Federung des Busses die Aussicht vor mir in Schwingung, und durch die schwerelose Landschaft schwangen Irenes Schuhe an unserem Hochzeitstag, die Bilder einer Kurzgeschichte von Arthur Miller (Wildpferde wurden gejagt, um Wurst aus ihnen zu machen) und die unbezahlte Stromrechnung. Das Gehirn erleichtert sich am Zug- oder Busfenster. Ich ließ mich von der Illusion übermannen, dass ich in einem Dorf an der Grenze die Antworten finden würde, und da ich ohnehin im Dialog mit einem Gespenst stand, war es einerlei, auf welche Art ich mich durch die Landschaft fahren ließ. In diesem Delirium verschwammen die steile Kurve bei Florida mit dem gedämpften Glanz von Wandas Augen und die rasante Fahrt durch Sarandí Grande mit der StimmeNinas, die mir erzählte, sie sei vergewaltigt worden. Ich begriff nicht, was für einen Krieg sie gegen sich selbst führte, noch, warum der Schmerz immer echter wirkte als alle Worte. Nach einer weiteren Stunde kamen wir am Friedhof Parque de Durazno und an der Mautstelle vorbei, ich musste an die Engel aus Hansens Elektronenhirn denken, und kurz nachdem wir den Río Negro überquert hatten, nickte ich ein.
Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht geworden, und wir erreichten gerade Tacuarembó, über eine Straße mit unverputzten
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