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Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos María Domínguez
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begraben, unter den hohen Alleebäumen, wo sich all die, die nicht das Strandleben genossen, um die Arbeiterwohlfahrt scharten, um den Dreck der Kipplaster, um die Karren und Pferde der Müllwühler, die sich die ganze Stadt aufladen mussten wie eine Ungerechtigkeit, denn die andere Hälfte, die in Straßen, Geschäften und Büros fehlte, würde mit der einzigen Sorge zurückkehren, so bald wie möglich wieder loszuziehen, denn das Leben spielte sich anderswo ab, in den Dünen und an den Stränden, die das Fernsehen zeigte.
    Zu Hause nahm ich eine Dusche und rief Nina an. Der Anrufbeantworter meldete sich, und ich hinterließ die Nachricht, sie solle mich anrufen. Ich vermutete sie an einem Badeort bei Maldonado oder Rocha, doch am Abend rief sie zurück, und ich bat sie um ein Treffen in ihrem Büro, auch wenn ich nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Am nächsten Tag sah ich sie um sechs Uhr abends in ihrer Bürokabine in Pocitos hinter einem kleinen Schreibtisch, die Vorhänge diskret zugezogen. Es schien kein Ort der florierenden Geschäfte zu sein, aber abgerissen war er auch nicht, vielleicht hatte eine Stunde zuvor ein Pfandleiher dort gesessen, wo nun Nina saß, auf einem der zwei Kunstlederdrehstühle, mit ihrem Notizblock, daneben ein Garderobenständer mit ihrer Handtasche. Sie sah umwerfend aus, etwas nervös, das Haar kurz, die Lippen ungeschminkt, der Hals steif. Kaum erkannte ich die Frau mit den langen Locken wieder, mit der ich im Schatten der Platanen geredet hatte. Damals hatte sie verletzlich und sanft ausgesehen, jetzt blickte sie mich hinter dem Schreibtisch mit großen, neugierigen Augen an.
    Ich fragte sie nach Eva und ließ meinen Blick auf dem Freud-Porträt ruhen, das sie womöglich aus der Schublade zog und aufhängte, wenn sie Sprechstunde hatte.
    »Die wird wohl nicht wiederkommen«, sagte sie. »Sie hat verkauft, was zu verkaufen war.«
    Es war schummerig, und ich wollte sie schon bitten, das Licht anzuschalten, aber dann war mir der gedämpfte Ton ihrer Stimme, ihrer beigefarbenen Jacke lieber.
    »Ich weiß nicht, ob du darüber reden möchtest«, begann ich, hatte mich zum Duzen entschlossen, »aber Waldemar will mir nicht aus dem Kopf, und ich würde gern wissen, ob ihn womöglich der Verlust seiner Zulassung dazu getrieben hat, vom Balkon zu springen.«
    »Über seine Zulassung weiß ich nichts«, entgegnete sie hastig, »auch nicht, dass sie ihm entzogen wurde.«
    »Schade, denn genau das wollte ich von dir wissen.«
    »Vielleicht weiß es Wanda. Oder Eva. Sie meinen, er konnte nicht mehr arbeiten?«
    »Seine Notarzulassung wurde widerrufen, aber wie wichtig das für ihn war, weiß ich nicht.«
    Nina stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und faltete die Hände. Sie hielt sie auf Augenhöhe und ließ sie dann langsam sinken.
    »Walli hat viele Stunden mit seiner Arbeit verbracht. Tagsüber, manchmal sogar abends und sonntags. Er war allzu einsam, und Arbeiten lenkt von der Einsamkeit ab. Ich glaube, abgesehen von Eva, war es das Einzige, worauf er stolz war.«
    »Aber er war doch mit dir zusammen …«
    »Das zählt nicht, denn ich war mal da, mal nicht da«, sagte sie und entflocht ihre Hände. »Wir haben ungefähr ein Jahr zusammengelebt, haben uns getrennt, sind wieder zusammengezogen, getrennt, zusammengezogen. Es war nicht einfach, mit ihm zu leben.«
    »Schwer zu glauben.«
    »Nicht wirklich. Walli hatte so seine Taktiken, die Unzufriedenheit zu bemänteln. Er konnte Stunden mit einem Buch in der Hand verbringen, CD s hören, am Computer sitzen und sich nachher beschweren, weil ich ihm nicht gesagt hatte, dass ich ging. Er konnte sich über die dümmsten Sachen ärgern, sprach es aber selten aus. Und zwei Monate später warf er mir dann vor, dass ich so nett zum Zeitungsverkäufer gewesen war.«
    »Eifersucht.«
    »Unsicherheit. Ich glaube, er hat nie gewusst, warum ich mit ihm zusammen war, und wenn ich es recht überlege, ich ebenso wenig. Nicht, dass ich ihn nicht geliebt hätte. Er war großzügig zu mir, sehr sogar. Aber er konnte sich einfach nicht auf Risiken einlassen. Risiken hasste er und zog sich in die Welt zurück, die er sich rund um seine Interessen aufgebaut hatte. Keiner konnte ihn da rausholen. Mag sein, er war alt und wollte nur das bewahren, was ihm wichtig war. Ich war eine Art Geschenk, das er sich machte, vielleicht der Beweis, dass er immer noch eine Frau zu fesseln vermochte, wenn er dazu aufgelegt war und sich nicht daran störte, dass ich

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