Der verlorene Sohn von Tibet
langsam, fluchte leise und setzte sich auf eine nahe Bank. Unten beim Tor sammelten sich die Einwohner. Man hatte die Steinplatte zurückgerollt. Einer der Gurkhas sprach zu den Leuten und fuchtelte dabei mit seinem Gewehr herum. Soeben betraten mehrere Tibeter mit Rucksäcken das Dorf. »Ich weiß nicht«, sagte Corbett beunruhigt. »Alles ist viel unklarer als bei meiner Ankunft in Tibet.« Er schaute lange zu Boden, zog dann Bleistift und Papier aus der Tasche und fing an zu schreiben. »Können Sie mit einem Computer umgehen?« fragte er Shan.
Als sie eine halbe Stunde später von der Bank aufstanden, waren die Dorfbewohner immer noch auf der untersten Ebene versammelt. Ihre Stimmung hatte sich verfinstert. Yao saß abseits und betrachtete den Teich. Die Tibeter schienen den Inspektor absichtlich zu meiden, und als Shan sich näherte, wichen sie seinem Blick aus.
Liya fing ihn ab, bevor er die anderen erreichte, zog ihn zu dem alten Wohnhaus und wartete auf der Veranda, bis Yao sich zu ihnen gesellte.
»Es tut mir leid«, sagte sie mit zutiefst gequälter Miene. »Ich habe an die Vernunft der anderen appelliert, aber …« Sie wandte sich um und packte mit beiden Händen die alte Gebetsmühle, als müsse sie sich festhalten. »Chinesen sind in den Bergen unterwegs und sprengen alte Höhlen. Manche davon dienen unseren Leuten bisweilen als Verstecke, und jemandkönnte im Innern eingeschlossen werden. Alle wissen, daß ihr mit Ming zusammenarbeitet, und nun heißt es, Ming sei der Anführer der Gottestöter. Eine alte Frau wurde überfallen, eine unserer Cousinen. Man hat all ihre alten Statuen und Schriften gestohlen und dann ihren Brennofen zerstört.«
»Fiona?« fragte Shan bestürzt. »Wurde sie verletzt?«
Liya sah ihn mit neuem Interesse an. »Du meinst unsere Dolma? Nein, es geht ihr gut. Aber die Gurkhas beharren darauf, daß ihr beiden dazugehört und für die anderen Chinesen spioniert, um Zhoka und Bompari zerstören und völlig auslöschen zu können. Es heißt, ihr wolltet beenden, was damals mit der Bombardierung von Zhoka begonnen hat. Andere halten euch für Erddämonen, die ihre Fesseln abwerfen wollen.«
Die Dorfbewohner starrten nun alle das Haus an, und einige kamen vorsichtig näher.
»Geht hinein«, drängte Liya. »Ich werde mit ihnen reden und sie hoffentlich beruhigen können.« Dann jedoch hielt sie inne und legte Yao eine Hand auf den Arm. »Ist das wahr, Inspektor? Würden Sie uns zerstören, falls Sie könnten?«
Yao zögerte nicht. »Alles, was Sie hier tun, ist illegal«, sagte er ruhig. »Sie sind illegal. Das ganze Dorf ist illegal.«
»Würden Sie uns zerstören?« wiederholte Liya.
»Das ist meine Pflicht«, herrschte Yao sie an.
Liya schien in Shans Gesicht nach einer Lösung zu suchen und schloß dann kurz die Augen. »Danke für Ihre Aufrichtigkeit«, sagte sie zu Yao, brachte ihn und Shan in das zweite Schlafzimmer und ließ sie allein.
Yao fing sofort an, den Raum abzusuchen. »Eine Waffe«, flüsterte er. »Wir müssen eine Waffe finden.«
Shan half ihm nicht, sondern ging zu einer von Major McDowells alten Zeichnungen, nahm den Rahmen von der Wand und setzte sich damit auf eines der Betten. Das Bild zeigte einen lachenden Lama, der auf einem Yak saß. Auf einmal fühlte Shan sich sehr müde und sank in eine merkwürdige Meditation. Die Ereignisse der letzten drei Tage zogen in wirrer Folge an ihm vorüber. Der Lama auf dem Yak schien ihn für seine Begriffsstutzigkeit zu verspotten.
Als Liya die Tür öffnete und das Zimmer betrat, wußte Shan nicht, wieviel Zeit vergangen war. Wortlos musterte sie die Unordnung, die Yaos Suche hinterlassen hatte, und seufzte. »Es gibt Tee«, verkündete sie angespannt und kehrte in den Hauptraum zurück.
Shan und Yao folgten ihr. Der Inspektor hielt weiterhin den kleinen Computer umklammert.
Corbett saß dort und trank aus einer der Porzellantassen. Neben ihm saß Dawa am Boden und zeigte ihm Bilder in einem Buch. Liya reichte Yao und Shan je eine der zierlichen Tassen, bedeutete ihnen, am Tisch Platz zu nehmen, und trug einen Teller mit getrocknetem Käse und Aprikosen auf. Shan trank einen Schluck und stellte überrascht fest, daß es starker schwarzer Tee mit Milch war, zubereitet nach indischer Art. Das Gebräu schmeckte süß und erfrischend, allerdings auch seltsam metallisch. Liya aß etwas Käse und schien bewußt ihren Blick abzuwenden.
Shan wollte sich nach den anderen erkundigen und erstarrte. Corbett war
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