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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ohnmächtig auf seinem Stuhl zusammengesunken. Liya nahm ihm behutsam die Tasse aus der Hand.
    Erschrocken stand Shan auf. »Lokesh!« rief er. Nein, eigentlich wollte er es rufen, aber dann wurde ihm klar, wie dick und schwer seine Zunge sich anfühlte. Seine Beine zitterten. Der Raum verschwamm. Shan machte einen Schritt, ging in die Knie und hörte, wie neben ihm der Computer zu Boden fiel. Der Inspektor faßte sich an die Kehle.
    Liya ging zu Shan und nahm seine Tasse. »Lokesh wird nichts geschehen«, sagte sie verzweifelt, als schulde sie ihm einen letzten Gefallen. Als Shan nach vorn kippte, streckte sie die Arme aus und fing ihn ab. Mit einem letzten Rest von Bewußtsein nahm er wahr, daß mehrere undeutliche Gestalten das Haus betraten und sich um ihn versammelten. »Sorgt dafür, daß es schnell geht«, hörte er Liya noch sagen. »Ich will nicht, daß sie leiden.«

ZWEITER TEIL

Kapitel Neun
    Das Licht, nach dem Shan sich reckte, blieb knapp außerhalb seiner Reichweite, ein winziger heller Fleck in einem langen schwarzen Tunnel. Ein Kind rief nach ihm, versicherte, es sei alles in Ordnung und er solle jetzt zurückkommen. Ein Mann fluchte auf chinesisch. Ein Mädchen betete auf tibetisch.
    Plötzlich zuckte eine Art Blitz durch Shans Kopf, und dann war da nur noch Licht, ein grelles, schmerzhaftes Licht. Er riß den Arm vor die Augen und hörte sich stöhnen.
    »Komm zurück«, sagte das Mädchen besorgt und zog seinen Arm beiseite. »Aku Shan, bitte komm zurück.« Sie drückte mehrmals seine Finger.
    Endlich klärte sich Shans Blick. Er lag auf einer Wiese im hohen Gras. Dawa hielt seine Hand und lächelte, als er sie verwirrt ansah. Dann half sie ihm, sich aufzusetzen. Sie befanden sich auf dem sanft geneigten Hang eines langgezogenen, hohen Berggrats. Fast überall wuchsen wilde Blumen. Die Sonne stand ungefähr zwei Stunden über dem Horizont, und in der Nähe sangen Lerchen.
    »Du bist nicht gestorben«, versicherte Dawa und wies auf den sitzenden Inspektor Yao, als sei dessen Anwesenheit ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß Shan nicht im Himmel war. »Manche der Dorfbewohner wollten euch töten«, berichtete das Mädchen ganz sachlich, »aber Liya hat euch Medizin gegeben, damit es euch heute besser geht.«
    Shan musterte sie nachdenklich. Medizin. Er stand auf und sog die kühle Morgenluft ein. Damit es ihnen besser ging. Damit sie am Leben blieben, begriff er, als ihm die Ereignisse des Vorabends wieder einfielen. Manche der Dorfbewohner hatten Shan und Yao umbringen wollen. Liya hatte ihre chinesischen Besucher betäubt, um sie zu retten.
    »Wie sind wir hergekommen?«
    »Quer über einem Pferderücken. Es gab nur zwei Pferde im Dorf. Ich habe hinter Liya gesessen.«
    »Aber wo ist Lokesh? Und der Amerikaner?«
    Dawa zuckte die Achseln. »Die sind im Dorf geblieben.«
    In zehn Metern Entfernung entsprang ein Bach der Erde. Shan rieb sich das kalte Wasser ins Gesicht und trank ausgiebig. Dann bedeutete er Yao, es ihm gleichzutun.
    »Entführung und versuchte Ermordung eines Regierungsbeamten«, knurrte der Inspektor.
    Dawa sah ihn bestürzt an. »Das war Medizin«, wiederholte sie.
    »Liya hat uns gerettet«, sagte Shan und erklärte, was Dawa ihm anvertraut hatte. »Sie hat Sie gehen lassen, obwohl Sie sagten, Sie würden Bumpari zerstören.«
    »Die Frau hat sich einfach nur eine weniger gewaltsame Todesart für uns ausgedacht«, gab Yao barsch zurück. »Wir sind mitten in der Wildnis gestrandet, ohne Proviant, ohne Landkarte, ohne Beförderungsmittel.« Er hielt inne, klopfte seine Taschen ab und holte den Notizblock hervor. Dann blätterte er die Seiten durch, als wolle er sich von der Vollständigkeit überzeugen, und steckte den Block schließlich wieder ein. Dabei runzelte er unversehens die Stirn und zog noch etwas aus der Tasche, eine längliche braune Perle mit verschlungenem weißem Muster.
    Shan fand bei sich selbst ebenfalls eine dieser Perlen. »Von Liya«, sagte er. »Die sollen uns beschützen.«
    Yao wirkte weiterhin skeptisch, verstaute die Perle aber wieder in der Tasche. »Der Amerikaner«, sagte er beunruhigt. »Er schwebt als Ausländer sogar in noch größerer Gefahr als wir. Diese Leute rauben Fremde einfach aus und lassen die Leichen verschwinden.«
    Aber Shan glaubte nicht, daß Corbett etwas zu befürchten hatte. Immerhin waren die Dorfbewohner zu dem Schluß gelangt, der Amerikaner sei ein Kind des Regenbogens. »Warum hat man dich weggeschickt?« fragte er Dawa.

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