Der verlorene Sohn von Tibet
diese letzte Ehre zu erweisen. Wir waren uns nicht sicher, wie wir vorgehen sollten. Lodi hat die Worte geschrieben. Es hätte eigentlich ein Gebet sein müssen, aber wir kennen kaum welche«, flüsterte Liya.
»Ming war sein Partner. Glaubst du nicht, Lodi hätte ihm von Zhoka erzählt? Die beiden hatten zuvor schon Ruinen für das Museum untersucht.«
»Ich weiß es nicht. Lodi hat Ming immer weniger getraut. Er sagte, Ming würde sich viel zu sehr für die Kaiser und irgendwelche Kostbarkeiten interessieren.« Sie sah wieder Shan an.
»Ming hat mit Lodi über die Kaiser gesprochen?«
»Zumindest hat Lodi das behauptet. Genaueres weiß ich nicht.«
»Was haben die beiden gemacht, Liya? Es ging nicht bloß um den Vertrieb von Kunstwerken.«
Sie biß die Zähne zusammen und tat so, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Bei seinem letzten Besuch hat er Ming gar nicht erwähnt, sondern nur gesagt, wir sollten Widerstand leisten, falls Chinesen aus dem Norden kämen. Er sagte, es würden gefährliche Männer, aber keine regulären Soldaten sein. Und er hat die Gurkhas um Unterstützung gebeten, die ihm sonst immer geholfen haben, den Grenzpatrouillen zu entgehen.«
»Die Bewaffneten.«
»Es gab deswegen Streit. Manche von uns wollten hier keine Schußwaffen dulden, aber Lodi sagte, wir würden nicht begreifen, welch große Gefahr inzwischen drohe. Vor langer Zeit sei etwas geschehen, dessen Auswirkungen nun unser Ende bedeuten könnten. Er hat mich sogar gebeten, alle Einwohner über die Grenze zu evakuieren.«
»Doch das hast du nicht getan.«
»Ich werde nicht diejenige sein, die Bumpari nach so vielen Jahrhunderten im Stich läßt. Ich bleibe, auch wenn das bedeutet, daß nur noch ich hier lebe.«
Liyas Tonfall jagte Shan Angst ein. »Was hat er mit ›vor langer Zeit‹ gemeint? Die chinesische Invasion?«
»Das glaube ich nicht. Er hat zuletzt nach alten Büchern gesucht, alten peche über die Geschichte Zhokas. Den Grund wollte er mir nicht verraten. Aber eines Abends hat er sich betrunken und gesagt, nur Narren würden glauben, für einen Kaiser könnten Götter an erster Stelle stehen.«
Von draußen ertönten drei tiefe, hallende Glockenschläge. Liya zuckte zusammen. »Es gibt Ärger«, sagte sie und rannte hinaus. Die Versammlung löste sich auf, und auch die anderen Tibeter verließen das Gebäude, manche mit sichtlicher Eile.
Nur Corbett blieb am Boden sitzen. Auf seinem Schoß lagen Pinsel, Blumen und Früchte.
»Ich schätze, die Leute möchten, daß Sie bleiben und ihnen beibringen, wie man Götter malt«, stellte Shan fest.
Corbett lächelte wehmütig. Nach einer Weile hob er den Kopf und sah Shan an. »Meine Mutter war eine Künstlerin, genau wie ihre Schwester. Als ich klein war, haben die beiden mich immer mitgenommen. Wir sind zur Küste gefahren, um den Blick auf das Meer zu malen. Ich hatte auch eine Staffelei und eigene Aquarellfarben. Aber am Ende wurde ich aufs College geschickt. Sie sagten, mit Malerei könne man keine Familie ernähren.«
»Ming hat uns nicht alles erzählt«, sagte Shan. »Ich bin auf ein Foto gestoßen«. Er holte die Aufnahme von dem Festmahl hervor und reichte sie Corbett. »Er und Lodi haben sich gekannt.«
Die zufriedene Miene des Amerikaners verschwand. Er stand abrupt auf, so daß die Gegenstände von seinem Schoß zu Boden fielen, und stürmte wortlos nach draußen.
Shan holte ihn im Garten wieder ein. Corbett starrte finster in Richtung der fernen Gipfel, und seine Augen funkelten wütend. Er hob das Bild. »Das ist er – der Westler! Ming und Lodi kennen den berühmten Mr. Dolan höchstpersönlich. Dieser Mistkerl Ming muß das alles geplant haben.« Seine Mundwinkel zuckten, und er trat gegen einen Stein. Der Kiesel flog durch die Luft und köpfte eine Blume.
»Ming macht sich über uns lustig«, fauchte Corbett. »Die wußten von Dolans Sammlung und seinem riesigen Vermögen. Vermutlich konnte Ming einfach nicht widerstehen. Eine Verschwörung gegen einen reichen amerikanischen Kapitalisten, zusammen mit seinem Freund, dem internationalen Kunstdieb. Wer wüßte besser als Ming und Lodi, wie man eine solche Sammlung zu Geld macht? Ming spottet schon die ganze Zeit über uns. Er weiß, daß er politisch unantastbar ist.«
»Aber Lodi wurde ermordet«, wandte Shan ein. »Ming kann es nicht gewesen sein, er saß zu der Zeit in Lhadrung.«
»Vielleicht war es doch Ihr Mönch.«
»Das erklärt nicht die Vorfälle in Peking.«
Corbett nickte
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