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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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»Dir würde niemand etwas antun.«
    »Liya sagte, die anderen würden ewig nach mir suchen, fallsich nicht zurückkehre. Und sie sagte, du wüßtest schon, wohin du mich bringen sollst.«
    »Wie kommt sie denn darauf?« fragte Shan, während Dawa ein Stück Papier hervorholte.
    »Aiwenn hoh«, brachte sie mühsam über die Lippen und gab Shan den Zettel.
    Er las ihn und mußte lächeln. »Zu Ivanhoe.«
    Dawa nickte. »Genau! Sie sagte, geh zu Ivanhoe, dann könnt ihr einander helfen.«
    »Wo entlang?« fragte Shan das Mädchen. »Welche Richtung habt ihr letzte Nacht eingeschlagen? Seid ihr vom Dorf aus über die lange Ebene geritten oder auf dem gleichen Weg wie bei unserer Ankunft?« Die Landschaft kam ihm völlig unbekannt vor.
    Dawa zuckte die Achseln. »Es war dunkel. Ich hatte schon geschlafen und war noch müde.« Sie deutete auf einen Stoffbeutel, der nahe der Quelle auf einem Felsen lag. »Den hat Liya euch mitgegeben.«
    »Es ist zwölf, eventuell vierzehn Stunden her«, rechnete Shan und holte den Beutel. »Wir könnten fünfzig oder sechzig Kilometer weit weg sein«, übertrieb er. Yao sollte möglichst nicht zu dem Dorf zurückfinden. In Wahrheit bezweifelte Shan, daß sie in der zerklüfteten Landschaft mehr als fünfzehn Kilometer zurückgelegt hatten. »Wir sind nun weiter im Süden, dichter am Himalaja.«
    Yao schüttete den Beutel aus. Sechs Äpfel und etwas getrockneter Käse fielen ins Gras. »Das bedeutet bloß, wir werden ein wenig langsamer verhungern«, murrte er.
    »Nein«, widersprach Shan und ließ den Blick erneut über die Landschaft schweifen. »Liya hat diesen Ort sorgfältig ausgesucht. Es gibt hier Wasser. Und wir befinden uns hoch genug, um die Straße zu erkennen, sind aber gleichzeitig so weit davon entfernt, daß niemand uns zufällig bemerken wird.« Er wies nach Südwesten, wo in der Ferne eine Staubfahne aufstieg.
    Yao stand auf und kniff die Augen zusammen. »Ein Lastwagen!« rief er aufgeregt. »Er fährt nach Norden. Aber wir können ihn niemals rechtzeitig erwischen!«
    »Es werden noch andere kommen«, sagte Shan, packte dieVorräte wieder ein und schwang sich den Beutel über die Schulter.
    Eine Stunde später erreichten sie die Schotterstraße. Es war weit und breit kein Fahrzeug in Sicht, also machten sie sich zu Fuß auf den Weg nach Norden. Nach etwa dreißig Minuten näherte sich von hinten ein verbeulter alter Lastwagen, auf dessen kleiner Ladefläche vier Schafe standen.
    »Ich will zum Markt nach Lhadrung«, antwortete der fast zahnlose Fahrer, als Shan sich nach seinem Ziel erkundigte. Shan bot ihm drei Äpfel, und der Mann bedeutete ihnen, sie könnten einsteigen. Dann öffnete Shan die Beifahrertür für Dawa und reichte ihr einen weiteren Apfel.
    Als Yao dem Mädchen folgen wollte, hielt Shan ihn zurück. »Wir fahren hinten mit.«
    Der Inspektor bedachte ihn mit einem mürrischen Blick, schloß aber die Tür und kletterte mit Shan auf die Ladefläche.
    Als der Laster mit lautem Rumpeln und einer schwarzen Abgaswolke anfuhr, ließ Yao sich vor der Rückwand des Führerhauses nieder. Die Schafe starrten ihn an. »Vielleicht haben Sie die Frau angestiftet«, sagte er mit eisiger Stimme. »Sie könnten das alles inszeniert haben, um mich von dort wegzubringen.« Er hob eine Hand, als wolle er den Schafen drohen. Die Tiere ließen sich nicht beeindrucken. »Kaum sieht es danach aus, als würde ich Antworten auf meine Fragen finden, werde ich auch schon gewaltsam daran gehindert. Weil Sie wissen, daß die Schuldigen Tibeter sind.«
    Shans einzige Reaktion bestand aus einem ungerührten Blick, der dem der Schafe entsprach.
    Yao musterte ihn wütend, zog seinen Notizblock aus der Tasche und fing an, fieberhaft zu schreiben. Je länger er arbeitete, desto zuversichtlicher wirkte er. »Ein ganzes Dorf voller Diebe«, verkündete der Inspektor zufrieden. Er schien die Schafe nun als sein Publikum zu betrachten und sprach zu ihnen, als wolle er seine Theorien erproben. »Eine beispiellose Schmähung des Sozialismus.«
    »Gestern noch hat er ihre Kunstwerke bewundert«, teilte Shan den Schafen gleichmütig mit.
    Yao ignorierte ihn. »Die können sich nicht ewig verstecken. Oberst Tan kann Truppen in das Gebiet südlich von Zhoka beordern. Per Luftaufklärung dürften wir diese Leute innerhalb von zwei oder drei Tagen aufspüren. Wir setzen die Grenzpatrouillen ein. Und dann halten wir in Lhasa einen Massenprozeß ab. Das wird landesweite Aufmerksamkeit erregen.«
    Shan

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