Der verlorene Sohn von Tibet
mittlerweile neben dem Gemälde stand.
»Schon bei Suryas erstem Besuch war es, als sei nach Jahren des Sturms die Sonne zwischen den Wolken hervorgekommen. Zuerst hat er jedem einzelnen, auch den Kindern, die Hand auf den Kopf gelegt. Dann ist er ganz für sich allein in die Werkstätten gegangen und hat dort zwei Stunden lang unsere Arbeiten begutachtet. Danach wies er uns an, diesen Saal hier vollständig auszuräumen. Als wir fertig waren, stellte er einen kleinen bronzenen Buddha auf einem Hocker in die Mitte desRaums und sagte, wir müßten nach seiner Abreise im Angesicht dieses Buddhas meditieren. Etwas anderes war uns nicht gestattet, nur Meditation, damit der Buddha uns erfülle, Tag und Nacht, nur unterbrochen durch unsere Mahlzeiten und den Schlaf, und zwar bis zu Suryas Rückkehr.
Als Lodi davon erfuhr, wurde er wütend, weil wir nicht mehr arbeiteten und er seine Kunden vertrösten mußte. Aber wir haben die Meditation nicht unterbrochen. Nach zwei Wochen kam Surya zurück und fing an, uns die Malerei zu lehren, ganz von vorn, als wären wir Kinder. Er hat dieses Bild dort für uns gemalt und bei seinem letzten Besuch fertiggestellt. Er sagte, die Welt würde sich bald verändern …« Ihre Stimme erstarb. Sie hob den Kopf und blinzelte die Tränen weg. »Liya hat uns erzählt, was geschehen ist. Er hat sich sehr bemüht, daß wir unsere Gottheiten wiederfinden, und am Ende hat er seinen eigenen Gott verloren.«
Schweigend betrachteten sie Suryas Gemälde. Eine Tür in Shans Erinnerung öffnete sich, und er hörte Suryas Stimme, die eines der alten Sutras las. Schließlich ging er mit Lokesh in den Nebenraum. Yao blieb stehen. Sein Blick war nicht auf das Bild, sondern auf die Malerin gerichtet.
Im zweiten Saal des langgestreckten Gebäudes fanden sie den Großteil der Dorfbevölkerung vor. Die Frau, die ihnen Tee serviert hatte, war dort, außerdem ein halbes Dutzend Kinder und ungefähr zwanzig weitere Erwachsene. Sie alle standen dicht gedrängt in der Mitte des holzvertäfelten Raums und raunten aufgeregt miteinander. Shan und Lokesh schoben sich sachte an der Gruppe vorbei. Die Leute hatten sich rund um Corbett versammelt, und einige wagten sich sogar schüchtern vor und klopften ihm auf die Schulter, während zwei Frauen ihm frische Beeren und Tee anboten.
»Es war draußen im Garten«, flüsterte eine leise Stimme. Dawa hatte Shan entdeckt. »Da lag eine Schreibtafel mit Pergament, Pinsel und Tinte. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Er hat den Pinsel in die Tinte getaucht, ein paar Striche gemalt, gelächelt und dann noch ein oder zwei Einzelheiten hinzugefügt. Es war eine Blume auf einem Zweig, eine perfekte kleineBlume aus nur sechs Pinselstrichen. Er hat mich gesehen und zu sich gewinkt. Dann kam eine alte Frau und war ganz erstaunt, als sie die Blume sah. Sie sagte, es sei, als würde die Zeichnung direkt aus dem Papier herauswachsen. Dann hat sie vor Freude gelacht und ein Dankgebet gesprochen. Sie rief, dieser Mann sei ein Kind des Regenbogens, und die anderen Leute liefen herbei. Kurz darauf hat jemand dieses lange Horn geblasen.«
»Welche alte Frau?«
Dawa deutete auf eine Tibeterin mit bunter Schürze. Sie saß neben Corbett und zeigte ihm eine Sammlung alter Pinsel.
»Das ist die Leiterin der Malerwerkstätten«, sagte Liya über Shans Schulter hinweg. »Die älteste all unserer Maler.«
»Was meinte sie damit, Corbett stamme vom Regenbogen ab?«
Liyas Antlitz erstrahlte. »Es heißt, in früheren Jahrhunderten hätten viele Heilige zunächst eine Zeitlang hier gelebt, bevor sie nach Zhoka weiterzogen. Sie lehrten uns, daß Kunst eine religiöse Übung sei und die besten Künstler, genau wie die besten Lamas, jene seien, die auf die Erfahrungen vieler vorheriger Leben zurückgreifen könnten.«
»Willst du etwa andeuten, Corbett sei die Reinkarnation eines dieser Männer?«
»Nicht ganz. Stell dir Kunst als eine spirituelle Macht vor. Corbett vereint in sich die Fähigkeiten vieler ehemaliger Künstler, nicht die einer bestimmten Person. Unsere alten Lehren besagen, daß diese Macht mittels des Regenbogens weitergegeben wird und daß die Stelle, an der ein Regenbogen den Erdboden berührt, der Geburtsort eines neuen Künstlers ist.«
Shan schaute zu Corbett. »Hat man ihm das schon erzählt?«
»O ja. Es gefällt ihm. Er ist ein Teil der Prophezeiung, laut derer die Welt sich verändert«, sagte Liya, sah Shan an und errötete. »So behaupten es wenigstens die
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