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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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verzog das Gesicht. »Und auf diese Weise wollen Sie das gestohlene Fresko des Kaisers finden? Und Dolans Kunstschätze? Ich habe in diesem Dorf hauptsächlich Frauen und Kinder gesehen. Ein Massenprozeß für zwanzig oder dreißig Frauen und Kinder. Ist das der Sieg, den Sie hier in Tibet erringen wollten?«
    Yao runzelte die Stirn. »Wir müssen ja nicht unbedingt die jüngsten und ältesten dieser Leute verhaften.«
    »Nur ihr Leben zerstören.«
    »Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert.«
    Shan sah ihn schweigend an. »Corbett entstammt einem Regenbogen«, sagte er schließlich. »Und Sie? Woher kommen Sie? Sind Sie unter einem Felsen hervorgekrochen?«
    Yao durchbohrte ihn erneut mit finsterem Blick und schaute dann zu den fernen Gipfeln.
    »Die Soldaten werden niemanden finden«, fuhr Shan fort. »Vielleicht das Dorf, wenn sie lange genug suchen. Aber bis dahin wird es längst verlassen sein. Die Tibeter haben Wachen aufgestellt. Und sie kennen Verstecke, die noch viel tiefer in den Bergen liegen.« Doch schon die Entdeckung von Bumpari bedeutete gewaltigen Schaden, denn die Soldaten würden das Dorf auf jeden Fall zerstören und damit diese geheimnisvolle kleine Oase, die in mehreren Jahrhunderten gleichzeitig zu existieren schien, endgültig auslöschen. »Dann besteht keine Chance mehr, Lodis Mörder oder die gestohlenen Kunstwerke ausfindig zu machen.«
    Der Lastwagen hielt an, um eine Ziegenherde über die Straße zu lassen. Shan griff in den Beutel, nahm die letzten beiden Äpfel und gab einen davon Yao. Der Inspektor betrachtete den Apfel mißtrauisch, biß aber zu, kaute und schluckte. Dann brach er kleine Stücke davon ab und warf sie den Schafen vor.
    Da steckte noch etwas in dem Beutel, eine kleinere Stofftasche, die Shan bisher noch nicht bemerkt hatte. Er nahm sie heraus, löste die Verschnürung und fand darin eine zusammengerollte Zeitschrift vor. Nein, keine Zeitschrift, erkannte er, als er die Hochglanzseiten glattstrich. Es handelte sich um einen dünnen Katalog von etwa dreißig Seiten Umfang, datiert auf das Vorjahr. Er war in englischer und chinesischer Sprache verfaßt und gehörte zu einer tibetischen Sonderausstellung im Pekinger Museum für Altertümer. Mings Museum. Die Seiten enthielten gestochen scharfe Fotografien und Beschreibungen der Exponate. Jemand hatte mit schwarzer Tinte arabische Ziffern neben manche der Bilder geschrieben. Shan blätterte die Seiten durch und fand die Zahl Eins kurz vor der Mitte des Katalogs, neben einem kleinen sitzenden Buddha, fünfzehntes Jahrhundert, aus bemaltem Messing, mit Bettelschale in der Hand. Nummer zwei stand ziemlich weit hinten, eine Schutzgottheit, fünfzehntes Jahrhundert, aus vergoldeter Bronze, mit neun Köpfen und vierunddreißig Armen. Nummer drei, vier und fünf waren thangkas aus dem zwölften Jahrhundert, das Motiv jeweils ein Lama in Menschengestalt, umgeben von mythischen Tieren. Shan suchte eilig die restlichen Einträge heraus. Man hatte insgesamt fünfzehn Ausstellungsstücke markiert, zuletzt eine Silberstatue von Tamdin, dem pferdeköpfigen Beschützer. Auf der hinteren Innenseite des Umschlags, die nicht bedruckt war, tauchten die Nummern erneut auf, alle versehen mit einem handschriftlichen Dollarbetrag. Nummer eins, zehntausend Dollar, stand dort, gefolgt von einem Datum, das drei Jahre zurücklag. Shan ging die Seiten nun etwas langsamer durch und las jede der markierten Beschreibungen. Nummer zwölf war eine Bronzestatue des heiligen Manjushri, vierzehntes Jahrhundert, in einer Hand ein Schwert, in der anderen eine Lotusblume.
    »Liya möchte, daß wir die Wahrheit herausfinden«, sagte er langsam. »Sie hat uns nicht nur Proviant, sondern auch ein Beweisstück mitgegeben.«
    Yao blickte mit finsterer Miene auf. »Was soll das heißen?«
    Shan hielt ihm den Katalog hin und zeigte ihm die numerierten Gegenstände.
    »Das könnte alles mögliche bedeuten«, sagte Yao. »Vielleicht hat jemand seine Lieblingsstücke markiert.«
    »Nein, das ist es nicht. Sehen Sie genauer hin. Es handelt sich um die ältesten und wertvollsten Exponate. Für Reproduktionen aus dem Andenkenladen des Museums wären die genannten Preise viel zu hoch, und im Vergleich zu dem tatsächlichen Marktwert der Originale sind sie bei weitem zu niedrig.«
    »Und was folgern wir daraus?«
    »Sehen Sie sich Nummer zwölf an.«
    Yao schlug ein paar Seiten um, hielt inne und runzelte die Stirn. Dann fluchte er leise. »Wir haben diese Statue gestern

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