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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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hatten sich zum Abendessen versammelt. Auf dem Tisch standenSchüsseln mit gebratenem Reis, Hühnchen und Gemüse, Schweinefleisch und einigen anderen Gerichten. Mings Assistenten saßen um den Tisch herum und schauten zu ihrem Chef, der in der Ecke stand und etwas auf den großen Block schrieb. Yao saß neben der Tür und balancierte einen gefüllten Teller auf dem Schoß. Die alten Tibeter waren verschwunden, und nichts deutete mehr auf ihre einstige Anwesenheit hin, außer vielleicht vier Videokassetten auf einem der Stühle.
    »Ein Durchbruch!« rief Ming, als Shan den Raum betrat. Dann erklärte der Museumsdirektor, daß die alten Altarbotschaften ihnen wichtige Anhaltspunkte für die Verfolgung der seit langem gesuchten Verbrecher geliefert hätten und er sogleich in Peking anrufen wolle, um die guten Neuigkeiten weiterzumelden. Er übergab das Wort an die junge Han-Chinesin, die draußen am Tisch die Gebete aus den Figuren gezogen hatte.
    Yao bedeutete Shan, er solle sich etwas zu essen nehmen, aber Shan verspürte keinen Appetit und setzte sich auf einen Stuhl neben den Videokassetten. Die anderen klatschten unterdessen Beifall, während Ming den Raum durch eine der hinteren Türen verließ. Die Frau fing an, die Ergebnisse der Aktion genauer zu erläutern, und sprach dabei von einer Aufdeckung reaktionärer Botschaften. Das von Ming entworfene Suchprogramm sei mit den wiederholt auftretenden Namen gefüttert worden und habe eine Handvoll Stätten identifiziert, die vordringlich als illegale Verstecke des entwendeten Staatseigentums in Betracht kämen. Verantwortlich für die Taten sei die ehemals herrschende Mönchsklasse, was einmal mehr bewiesen habe, daß Mönche das Vermögen des Volkes für sich selbst beanspruchten. In den Texten seien Orte namens Bärenhöhle, Höhle des Lichts, Wunderhöhle und Höhle des Lama-Throns genannt worden, die laut den bisherigen Erkenntnissen in den Bergen südlich und östlich von Lhadrung liegen mußten. Dabei gäbe es keine exakten Ortsbeschreibungen, sondern Verweise auf geologische Besonderheiten, beispielsweise auf Gipfel in Form eines Klosterturms. Mit Unterstützung der Volksbefreiungsarmee werde man schon sehr bald direkte Zuordnungen vornehmen können, versicherte die Frau ihrem Publikum.
    Shan stand auf und schlich sich leise wieder nach draußen. Auf dem Hof hielt er inne, schaute zu den Häftlingen und empfand dabei eine kalte, schmerzliche Leere. Dann ging er zum Tor hinaus und verschwand zwischen den Bäumen. Nach fünfzig Schritten vergewisserte er sich, daß niemand ihm folgte, setzte sich und versuchte, die Gefühle zu ergründen, die das Auftauchen seines Sohnes in ihm ausgelöst hatte. Es gelang ihm nicht, also schob er es beiseite und rief sich ins Gedächtnis, daß die Tibeter in den Bergen ihn weiterhin brauchten. Er zog eine Videokassette unter dem Hemd hervor. Es war nicht schwierig gewesen, das oberste Exemplar des Stapels an sich zu nehmen, weil alle nur auf die Frau geachtet hatten. Nun schlug er die Kassette gegen einen Felsen, bis das Gehäuse zersplitterte. Dann zog er einen Teil des Bandes heraus und riß es von der Spule ab. Schließlich scharrte er mit einem kleinen flachen Stein ein Loch und vergrub die Reste.
    »Ich habe alles gesehen«, erschallte plötzlich eine strenge Stimme. Sie traf ihn wie eine Klinge zwischen die Schulterblätter. Shan starrte kurz auf seine Hände und hob dann langsam den Kopf. Am nächsten Baum lehnte Yao. »Sie haben die von Ming aufgezeichneten Zeugenaussagen vernichtet. Und vorhin haben Sie absichtlich diese alten Gebete ausgeschüttet, damit die Tibeter einen Teil davon retten konnten. Ming wäre außer sich.« Yao musterte das frisch ausgehobene Loch mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Zorn. »Langsam wird mir klar, welche Fehler Sie in Ihrer früheren Laufbahn begangen haben, Generalinspekteur Shan.«
    Hastig hob Shan den Kopf.
    »Ich habe mir heute nachmittag erneut Ihre Akte vorgenommen«, fuhr Yao fort. »Diesmal habe ich alles gelesen. Sie galten in Ihrem Ministerium als mustergültiger Mitarbeiter. Ihnen wurde die Parteimitgliedschaft angetragen, aber Sie haben abgelehnt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie von jemandem gehört, der eine solche Ehre zurückgewiesen hätte. Warum haben Sie sich nicht gleich eine Pistole an den Kopf gehalten?«
    »Es hat sich damals nicht wie eine Ehre angefühlt«, sagteShan. »Ich habe gegen einen leitenden Parteifunktionär ermittelt. Es ging um

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