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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Stimme.
    Er hob den Kopf und blickte in die grünen Augen von Elizabeth McDowell. »Für gar nichts«, sagte Shan und wollte die Zeichen wegwischen.
    »Bitte nicht«, sagte sie und kniete sich neben ihn. Sie hatte geweint. »Das sind alte Ideogramme. Was bedeuten sie?«
    »Mein Vater hat sie häufig benutzt. Sie sind wie Gedichte«, sagte Shan nach einem Moment und wies auf das umgedrehte Y. »Das ist das Zeichen für Mensch, und das« – er zog das U nach – »bedeutet eine Grube. Ein Mensch, der in eine Grube fällt. Zusammen stehen sie für ein Unglück, eine Katastrophe.« Er ließ die Worte einen Augenblick wirken. »Ich weiß, daß Lodi Ihr Cousin gewesen ist. Es tut mir leid. Er war außerdem ein Krimineller.«
    »Aber kein besonders schlimmer«, sagte McDowell. »Sein Herz war viel zu groß. Er war wie Robin Hood.« Sie blickte auf. »Oh, Verzeihung, Robin Hood war ein …«
    »Er hat den Reichen genommen und den Armen gegeben. Und Sie müssen ihm dabei geholfen haben.«
    Sie lächelte wehmütig. »Ich bin bloß eine Beraterin. Was bedeutet das zweite Zeichen?«
    Shan wischte es weg und zeichnete es erneut, angefangen mit einer waagerechten Linie und einem kurzen senkrechten Balken in deren Mitte, von dem auf beiden Seiten kleine Striche abzweigten. »Das ist ein Dach, um Wind und Regen abzuhalten.« Er zeichnete ein Rechteck darunter. »Ein Fenster unter dem Dach.« Er zog eine Linie durch das Fenster. »Eine Stange«, erklärte er und fügte am Ende der Stange eine Wellenform hinzu. »Ein Banner. Ein Banner, das stets im Wind flattert, unabhängig vom Wetter. Das alles zusammen steht für das Absolute.«
    Die Frau betrachtete das Zeichen ernst.
    »Die traditionellen Tibeter, wie sie beispielsweise tief in den Bergen leben, denken und handeln ausschließlich in absoluten Kategorien«, sagte Shan. »Das konnten Außenstehende noch nie begreifen. Es gibt kein Dazwischen, kein Vielleicht, kein Andeuten, kein Morgen. Es gibt nur die wahren Dinge und die Notwendigkeit, sich allein ihnen zu widmen. Nichts anderes ist von Belang. Keine politische Macht. Kein Geld. Kein elektrischer Haartrockner.«
    McDowell schien zu glauben, Shan wolle sie tadeln. Sie lehnte sich zurück und wirkte immer trauriger. »Ich hätte nie gedacht, daß Ming so etwas tun würde … daß er diese Menschen verhaftet oder ihre Altäre plündert. Ich war in der Klinik. Falls ich es gewußt hätte, hätte ich versucht, es zu verhindern. Er wollte nur ein paar alte Schreine finden, das ist alles. Er will mehr über einige Symbole der Todesgottheiten erfahren. Es ist … es ist wie eine fixe Idee.«
    »Er reißt Gebete aus heiligen Figuren«, sagte Shan tonlos. »Und Sie sprechen von einer fixen Idee.«
    McDowell legte eine Hand auf das zweite Ideogramm, drückte sie hinunter und beließ sie dort, während sie zu Shan aufblickte. »Lassen Sie ihn einfach fertig werden und abreisen. Niemand will, daß den Tibetern ein Leid geschieht.«
    »Hat Ming Ihren Cousin ermorden lassen?«
    Sie starrte ihn an, nicht überrascht, sondern bekümmert. »Natürlich nicht. Wir waren alle miteinander befreundet.«
    »Sie waren Geschäftspartner«, behauptete Shan.
    McDowell zuckte die Achseln. »Archäologen und Museumsleute machen häufig ein paar kleine Geschäfte, um die Rechnungen bezahlen zu können. Ming und ich kennen die Märkte, und Lodi konnte authentische Kunstwerke liefern.«
    »Und die Männer in den Bergen, waren das auch Ihre Partner? Der kleine Chinese und der Mongole.«
    »Nein.« Der Schmerz in McDowells Blick war wieder da. »Der Große heißt Khan Mo, der andere Lu Chou Fin. Sie arbeiten für den Meistbietenden und haben keinerlei Skrupel. Ming hat den Kontakt zu ihnen hergestellt, aber es sind nicht seine Leute.«
    Shan musterte ihr sorgenvolles Gesicht. »Es ist eine Art Wettstreit«, argwöhnte er. »Die beiden suchen das gleiche wie Ming und bemühen sich, ihm zuvorzukommen.«
    »Daran hätte ich nie gedacht.«
    »Bis Lodi ermordet wurde.«
    McDowell nickte und fuhr dann mit dem Finger die Linien des Unglückssymbols nach.
    »Warum interessiert Ming sich für einen Prinzen, der vor zweihundert Jahren gestorben ist?« fragte Shan.
    »Weil er sich so sehr für Macht und Gold interessiert. Aber er ist kein Mörder«, antwortete McDowell, stand plötzlich auf und wandte sich ab.
    »Bloß ein Gottestöter«, sagte Shan zu ihrem Rücken. Die Worte ließen die Frau innehalten, doch sie drehte sich nicht mehr zu ihm um, sondern ging nach einem

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