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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Moment weiter in Richtung des Anwesens.
    Bei Shans Rückkehr saß der Sergeant auf der Haube seines Lastwagens und rauchte eine Zigarette. Er verzog das Gesicht, als er Shan sah, wich ihm aber nicht aus.
    »Sie sind doch häufig bei der Bezirksverwaltung«, sagte Shan. »Haben Sie in letzter Zeit den alten Mann gesehen, der dort bettelt? Er heißt Surya.«
    Der Soldat atmete langsam den Rauch aus. »Der Killer-Mönch?« fragte er mit spöttischem Lächeln. »Oberst Tan hat sich um ihn gekümmert.«
    Shan stockte der Atem. »Sich um ihn gekümmert?«
    »Er hat ihn von dem Platz verscheucht. Betteln ist dort nicht mehr gestattet.« Der Sergeant nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette und betrachtete Shan amüsiert. »Der Mann hatte keine Arbeit«, fuhr er fort und ließ den Rauch aus Nase und Mund strömen. »Die Leute kamen und betrachteten ihn, als sei Betteln etwas Bewundernswertes. Der Oberst ließ einen seiner Offiziere mitten auf dem Platz eine kleine Ansprache halten, in der es hieß, Betteln sei eine Form des Rowdytums.«
    »Wohin hat man ihn gebracht?«
    »Der Oberst wies ihn an, sich eine Stellung in einer Fabrik zu suchen, so wie es sich für einen guten Tibeter gehört. Dann ließ er ihn an der Straße nach Lhasa absetzen, acht Kilometer östlich der Stadt. Aber einer meiner Männer sagt, er habe ihn wieder in Lhadrung gesehen, irgendwo bei den Kotsammlern. Falls dieser Ming noch einmal alle Alten einkassieren läßt, wird er vermutlich dabei sein.« Er schaute gelangweilt zum Tor des Anwesens, wo soeben unter lautem Dröhnen ein Lastwagen abfuhr. Auf der Tür stand 404. Baubrigade des Volkes , und die Ladefläche war voller Tibeter.
    »Die Kapos bleiben hier«, sagte der Sergeant. »Nach dem Essen schließt man sie im Stall ein.«
    Shan sah ihn verwirrt an. »Die Kapos?«
    »Er ist ein wilder Bursche. Als man ihn hier abgeliefert hat, wurden wir gewarnt. Es heißt, er habe letzte Woche mit einer Schaufel einen Wachposten angegriffen. Du hast ihn vor einer Disziplinarmaßnahme bewahrt.«
    »Wen?«
    Der Soldat schüttelte den Kopf und seufzte, als müsse er sich über Shans Begriffsstutzigkeit wundern. »Deinen Sohn, du Narr.« Er wies mit dem Daumen über die Schulter zum Innenhof.
    Shan wich einen Schritt zurück. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Dann rannte er durch das Tor.
    Die Männer in Blau befanden sich in einem offenen Schuppen gegenüber dem Hauptgebäude und aßen dampfenden Reis direkt aus einem Eimer, den man ihnen hingestellt hatte. Aufeinem Hocker an der Wand saß ein Wachposten und behielt sie im Auge. Shan wurde langsamer und hielt nach dem kleinsten der Männer Ausschau, nach dem mißhandelten, verängstigten Teenager, der eine kleine Narbe am Kinn trug, weil er als Kind auf einer vereisten Straße gestürzt war.
    »Shan Ko!« rief eine barsche Stimme hinter ihm. Der Sergeant war Shan gefolgt.
    In dem Schuppen rührte sich niemand.
    Der Sergeant trat vor und legte eine Hand auf seinen Schlagstock. »Tiger Ko!«
    Einer der älteren Gefangenen wurde beiseite gestoßen, und eine Gestalt kam aus dem Schatten zum Vorschein. Doch es war nicht sein Sohn, sondern der mürrische Häftling, der die Tibeter verhöhnt hatte.
    Der Sergeant packte den Mann am Ärmel und zog ihn hinaus ins Licht. »Sag deinem Papa guten Tag.« Die Belustigung war ihm deutlich anzuhören. Der Posten auf dem Hocker lachte.
    »Dieser alte Sack?« rief der Jugendliche. »Schwachsinn. Mein Vater ist Anführer einer gefährlichen Bande.« Er wandte sich ein Stück zur Seite, als seien seine Worte für die anderen Sträflinge gedacht. »Soldaten verspeist er zum Frühstück.«
    Der Sergeant sah Shan an und grinste breit. Der Posten stand von seinem Hocker auf und trat einen Schritt vor, als rechne er mit einer unterhaltsamen Darbietung.
    Etwas in Shans Innern schrumpfte zu einem eisigen Klumpen. Am Kinn des Gefangenen gab es eine Hautveränderung, eine kleine Narbe von dem Sturz aufs Eis. Shan war wie gelähmt. Das Gelächter wich in den Hintergrund zurück. Er spürte nur noch den haßerfüllten Blick des jungen Häftlings.
    » Cao ni ma !« fauchte der Jugendliche den Sergeanten an und verschwand wieder in dem Schuppen. Fick deine Mutter.
    Shan schleppte sich zurück zum Hauptgebäude, kauerte sich in eine dunkle Ecke der Eingangshalle und rang um seine Fassung. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, registrierte er eine laute Stimme, die aus dem Konferenzraum drang.
    Ming und seine nun frisch herausgeputzten Mitarbeiter

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