Der verlorene Sohn von Tibet
gebucht? Führen Sie eine allgemeine Medienabfrage durch, und besorgen Sie möglichst Fotos von Dolans tibetischer Kunstsammlung. Finden Sie heraus, welchem Zweck Mings Expeditionen in die Innere Mongolei gedient haben.
Auf einmal registrierte Shan, daß Yao ihm erneut über die Schulter blickte. »Stellen Sie fest, welche Zuwendungen von Dolan an Mings Museum in Peking geflossen sind«, diktierte der Inspektor nachdenklich. »Besorgen Sie eine Liste sämtlicher Telefonate, die Dolan während der letzten sechs Monate mit Peking geführt hat. Schicken Sie die Paßunterlagen von …«
Yao verstummte abrupt, denn die Tür ging auf und Direktor Ming stand plötzlich vor ihnen. »Wir haben Sie vermißt«, sagte Ming. »Sie hätten etwas über Ihre Diebe erfahren können.«
Shan tippte die letzten Buchstaben, schickte die E-Mail ab und schaltete den Computer aus.
»Tut mir leid, Genosse Direktor«, sagte Yao ungerührt. »Es klang für mich eher wie eine Geschichtsstunde.«
Ming umrundete den Tisch und blieb vor dem nun leeren Computermonitor stehen. »Ich benötige Sie bei den Teams, die morgen in die Berge aufbrechen, Inspektor. Die Armee hat ein Suchraster entwickelt.«
»Ich bin hier, um Diebe zu finden«, verkündete Yao.
»Genau. Der Dieb hat seine Beute in die Berge mitgenommen und wurde dort von tibetischen Reaktionären ermordet. Diese haben die gestohlenen Kunstwerke dann zu einem der alten verborgenen Schreine gebracht.«
»Sie haben Ihre Theorie geändert«, stellte Yao fest.
»Wir müssen uns der Lage anpassen.«
»Es könnte riskant sein, Ihre …«, Yao suchte nach dem passenden Begriff, »… Gelehrten in die Berge zu schicken. Warten wäre sicherer.«
Ming erwiderte Yaos bohrenden Blick, zuckte nach einer Weile die Achseln und lächelte. »Wir können nicht länger warten. Es ist Dringlichkeit geboten. Wie wir herausgefunden haben, besteht in Lhadrung eine regelrechte Tradition des Kunstdiebstahls. Da geht man, wenn es sein muß, auch über Leichen.« Er schritt zur Tür, blieb stehen und drehte sich um. »Das ist einer der Gründe für die Unterstützung seitens der Armee. Man hat Sie einem Team zugewiesen. Sie beide.« Er ging hinaus und wandte sich dabei noch einmal kurz um. »Machen Sie sich auf große Ereignisse gefaßt«, sagte er und verschwand.
Dreißig Sekunden später traten auch Shan und Yao auf den Flur und gingen zum hinteren Ende, das im Halbdunkel lag und unmittelbar an die Außenmauer des Geländes angrenzte. Eine alte Bohlentür führte nach draußen. Shan legte eine Hand auf den Knauf und hielt inne. Hinter einer anderen Holztür drang leises Stöhnen hervor. Yao hob den Riegel aus der Metallklammer am Türrahmen und zog die Tür ein kleines Stück auf. Aus der Dunkelheit schlug ihnen ein beißender Geruch nach Ammoniak und Seife entgegen. Als Yao die Tür losließ, schwang sie weiter auf, und ein schlaffer Arm landete genau vor ihren Füßen. Die Hand war blutbefleckt. Yao wich zurück. Shan hingegen kniete sich hin und griff nach dem Handgelenk.Es war warm, mit deutlichem Pulsschlag. Er schob die Tür bis ganz an die Korridorwand zurück, so daß etwas Licht ins Innere des Raums fiel. Es handelte sich um eine alte Meditationszelle, die zu einer Abstellkammer umfunktioniert worden war. In den Regalen standen Putzmittel, vor den Wänden reihten sich Schrubber und Eimer, und quer über einem Haufen verstaubter Lumpen lag ein Tibeter. Sein Gesicht war geschwollen und voll blauer Flecke, und aus mehreren kleinen Rißwunden sickerte Blut. Shan dachte, der Mann sei bewußtlos, aber dann bewegte sich die Hand. An ihr fehlten zwei Finger.
»Tashi, ich bin’s … Shan«, sagte er und beugte sich über den Verletzten.
Der Spitzel hob den Kopf und nickte, was ihn sichtliche Anstrengung kostete. »Bitte aufhören!« flehte er.
»Keine Angst, ich werde dir nichts tun.« Shan nahm einen der Lappen und tupfte Tashi das Blut vom Gesicht. »Wer war das? Und was wollte er von dir wissen?«
»Neulich abend«, sagte Tashi. »Dieser alte Mann, der bei dir war. Lokesh. Nachdem du weg warst, haben wir uns über die alten Bräuche und über mein Leben unterhalten. Er sagte, ich solle meiner Mutter erzählen, es seien Mönche in den Bergen.« Tashi richtete sich auf und lehnte sich an die Wand.
»War das Ming?«
»Danach mußte ich ihr versprechen, daß ich denen keinerlei Auskunft mehr über Zhoka gebe.« Blut lief über seine Wange.
»Was genau wolltest du ihm nicht verraten?« fragte
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