Der verlorene Sohn von Tibet
waren. Dann folgten drei robuste Holzkarren mit dicken U-förmigen Holmen, hinter denen zweiMenschen Platz finden würden, um das Gefährt zu schieben. Als Shan in den Schatten des ersten Gebäudes trat, tauchte eine Frau auf, die an einer Schultertrage zwei große Tontöpfe schleppte. Jedes der Gefäße war mit einer braunen Kruste überzogen. Hinter ihr kam ein Mann in Sicht und steuerte die Fahrräder an. Sein Mantel war dermaßen verschlissen, daß er ihm jeden Moment von den Schultern zu fallen drohte. Die Sonne ging auf. Seit Tagesanbruch standen überall in der Stadt diese großen Töpfe voller Fäkalien hinter den Häusern und Mietskasernen, um als Dünger auf die Felder transportiert zu werden, eine Tätigkeit, die so alt war wie China selbst.
»Ich möchte zu Surya, dem alten Mönch«, sagte Shan zu der Frau.
Sie lachte verbittert auf. »Wir haben keine Mönche. Schau in den Bergen nach. Oder im Gefängnis.«
»Ich will ihm nichts tun. Ich bin sein Freund.«
Die Frau sagte nichts, sondern griff in einen der Karren, holte einen langen hölzernen Schöpflöffel daraus hervor und tauchte ihn in eines der Gefäße, die hinter dem Gebäude aufgereiht standen. Shan trat einen Schritt vor. Die Frau schleuderte den Inhalt der Kelle nach ihm. Er wich aus, und der triefende braune Schlamm verfehlte ihn knapp. Hinter sich hörte er Yao fluchen. Shan ließ sich nicht beirren. Zwei weitere Frauen kamen hinzu, nahmen ebenfalls Schöpflöffel und füllten sie mit Kot. »Chinese!« zischte eine von ihnen und warf die nächste Ladung Dreck nach ihm. Seine Schuhe wurden bespritzt.
»Wenn du schon deine Scheiße bei uns loswerden willst, stell sie gefälligst vor deine Haustür«, rief eine der anderen. Shan sah über die Schulter. Yao hatte sich zum Wagen zurückgezogen. Die Tibeterinnen tuschelten beunruhigt. Er drehte sich zu ihnen um. Sie senkten die Kellen. Im zunehmenden Tageslicht war ihnen die militärische Kennzeichnung des Fahrzeugs aufgefallen.
»Surya ist aus den Bergen hergekommen«, versuchte er es erneut. »Er hat um Almosen gebeten. Sagt ihm, Shan ist hier.«
Die erste Frau verschwand hinter der nächsten Ecke und kehrte nach kaum einer Minute zurück. »Er sagt, er kannte maleinen Mann, der einen gewissen Shan gekannt hat«, verkündete sie unschlüssig.
Shan wagte sich ein Stück vor. Als niemand darauf reagierte, ging er an den Frauen vorbei auf den Innenhof des kleinen Geländes. Surya saß auf der steinernen Einfassung eines Brunnens. Zu seinen Füßen hockten drei kleine Kinder, und hinter ihm hatte sich ein halbes Dutzend Männer und Frauen vor einem alten Stall versammelt. Sie alle trugen die verschmutzte und zerlumpte Kleidung der Sammler. Shan sah sich etwas genauer um. Man hatte Schlafmatten zum Auslüften ins Freie gelegt. In der Glut eines Feuers stand ein geschwärzter Kessel. Die Leute arbeiteten nicht nur an diesem Ort, begriff Shan, sondern lebten hier und wurden vom Rest der Stadt gewiß peinlich gemieden.
Als Shan sich neben Surya setzte, schien dieser es gar nicht zu bemerken. Der alte Mönch war damit beschäftigt, aus getrockneten Binsen und Stroh eine kleine Puppe anzufertigen.
»Rinpoche«, sagte Shan, »wir müssen zurückkehren. Du wirst gebraucht. Die anderen sorgen sich um dich.«
Surya hob zerstreut den Kopf und blickte erst neben sich und dann über die Schulter, als suche er nach der Person, an die Shans Worte gerichtet waren.
»Gendun. Lokesh«, sagte Shan. »Sie benötigen deine Hilfe. Manches in Zhoka ist nur schwer zu verstehen.«
Surya sah ihm zögernd in die Augen. »Es tut mir leid, Genosse, aber du hast mich mit jemandem verwechselt. Unsere Wohlgerüche bringen Fremde bisweilen aus der Fassung.« Die Kinder lachten. Surya zog die letzte Verschnürung fest und reichte die Puppe einem kleinen Mädchen.
»Du hast dich mit Direktor Ming bei dem alten Steinturm getroffen. Hat er nach der Todesgottheit gefragt?«
»Er hat einen jungen Chinesen kennengelernt, einen großen Abt. Seine Fähigkeiten liegen jenseits aller Vorstellung«, sagte Surya und klang dabei seltsam abwesend. »Der Abt läßt wundervolle Gemälde entstehen, heilige Gemälde, mit nur einem Fingerzeig, einem Wort.«
Shan erschauderte. Surya sprach von seinem früheren Lebenimmer noch in der dritten Person. »Warum ist Zhoka so wichtig für Ming?« fragte er. »Ist er einer der Diebe, die du befürchtet hast?«
»In Zhoka scheinen verschiedene Dinge von Bedeutung zu sein, je nachdem.«
»Und
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