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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Yao.
    »Wozu?«
    »Um einen Kunstdieb zu fangen.«
    »Dann sind Sie ein Narr. Falls Sie immer noch glauben, es ginge hier um Kunstdiebstahl, richten Sie sich eigenhändig zugrunde.«
    Auch Yao blickte den finsteren Flur entlang. »Um Ming aufzuhalten«, murmelte er.
    Shan sah ihm in die Augen und nickte. »Ich benötige einen Helfer«, sagte er dann.
    Yaos Miene verhärtete sich. Er winkte Shan hinein und schaltete das Licht ein. »Einen Helfer zu welchem Zweck?« fragte er und schloß die Tür. »Um Ihren Sohn zurückzugewinnen?«
    Die Frage ließ Shan einen Moment lang verstummen. Yao und die anderen schienen seinen Sohn wie eine Waffe zu gebrauchenund immer dann anzugreifen, wenn er am wenigsten damit rechnete. »Ich werde Ihnen genau verraten, was ich will, sofern Sie das gleiche tun«, sagte er schließlich.
    Yao sah ihn durchdringend an. »Wie werde ich merken, ab welchem Zeitpunkt Ihre Interessen sich störend auf meine Interessen auswirken?«
    »Gar nicht.«
    »Und? Wird es zu einem Interessenkonflikt kommen?«
    »Mit großer Wahrscheinlichkeit.«
    Als Yao am Ende nickte, wirkte er dabei fast dankbar. Er ging zu seinem Bett und packte hastig eine Leinentasche.
    Sie hatten beinahe schon den Innenhof erreicht, als Shan eine Hand hob. Aus dem Konferenzraum ertönte ein leises, unregelmäßiges Klicken. Yao öffnete die Tür einen Spaltbreit. Mings Assistentin, die ernste junge Frau mit den kurzen Haaren, saß am Tisch und arbeitete an einem Laptop. Das einzige Licht im Raum ging von dem Bildschirm aus. Plötzlich ruckte erschrocken ihr Kopf herum. Sie hatte die beiden Männer bemerkt.
    »Fällt das Projekt Amban denn in Ihren Zuständigkeitsbereich?« fragte Yao streng, während die Frau sich anschickte, den Deckel des Computers zu schließen.
    »Selbstverständlich«, sagte sie trotzig und klappte den Laptop wie zum Beweis wieder auf.
    Sie arbeitete offenbar an einem Aufsatz oder Artikel, inklusive Fußnoten. In der Kopfzeile der Seite stand der Titel: Politische Attentate im Bezirk Lhadrung .
    »Direktor Mings Entdeckungen sind zu wichtig, um bis nach unserer Rückkehr zu warten«, verkündete die Frau. »Er möchte, daß noch heute morgen eine erste Zusammenfassung nach Peking geschickt wird.«
    »Ich war mir gar nicht bewußt, daß er schon irgendwelche Entdeckungen gemacht hat«, sagte Shan.
    »Falls es einen Anschlag gegeben hätte, würden wir davon wissen«, fügte Yao hinzu.
    »Staatsgeheimnisse«, erwiderte die Frau. »Letztendlich geht es nur darum, nicht wahr?« fragte sie in gönnerhaftem Tonfall.»Um die Art und Weise, wie die einheimische Bevölkerung geschickt die Wahrheit verschleiert hat.«
    »Aber es wurde niemand umgebracht«, betonte Shan.
    »Der vermißte amban wurde hier in Lhadrung von Reaktionären ermordet«, behauptete Mings Assistentin. »Wir werden die Geschichtsbücher entsprechend korrigieren.«
    »Der Neffe von Kaiser Qian Long?« fragte Yao. »Das liegt zweihundert Jahre zurück.«
    »Völlig egal. Die Gerechtigkeit des Volkes kennt keine Schranken.« Stirnrunzelnd nahm sie die skeptischen Mienen ihrer beiden Zuhörer zur Kenntnis. Sie schien zu dem Schluß zu gelangen, daß es ihrem Publikum an intellektueller Reife mangelte. »Diese Arbeit ist überaus wichtig. Die endgültige Textfassung wird Ende der Woche an das gesamte Team ausgehändigt.« Dann schickte sie Shan und Yao mit nachlässiger Geste weg.
    Draußen suchten sie die Armeefahrzeuge ab, bis sie einen kleinen Geländewagen fanden, bei dem der Schlüssel im Zündschloß steckte. Yao setzte sich ans Steuer. »Ich habe noch gar nicht gefragt, wohin wir fahren«, sagte er.
    »Das weiß ich erst, wenn ich es rieche«, erklärte Shan.
    Sie erreichten die Stadt, und Shan kurbelte das Fenster herunter. Fünf Minuten später wies er Yao an, den Wagen am Straßenrand zu parken, sechzig Meter hinter einer kleinen Ansammlung von Backsteinbauten. Als sie sich den Gebäuden näherten, wurde Yao deutlich langsamer, fiel hinter Shan zurück und hielt sich Mund und Nase zu. Der Kotgestank war nahezu überwältigend.
    »Bislang haben Sie mich in zwei große tibetische Geheimnisse eingeweiht: erst der Totenplatz und jetzt das hier«, stellte der Inspektor fest. »Als nächstes werden wir uns zweifellos durch einen Abfallhaufen graben.« Er scheuchte Shan weiter und wich zum Bordstein zurück.
    Shan kam an einer Reihe alter Fahrräder vorbei, die zu beiden Seiten des Hinterrads jeweils mit einer schweren Metallhalterung ausgestattet

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