Der verlorene Sohn von Tibet
Laufwerk.
Eine neue Überschrift erschien. »Nei lou«, stand dort in großen Buchstaben über einer chinesischen Flagge. Staatsgeheimnis. Projekt Amban, lautete die nächste Einblendung, gefolgt von einer kurzen Biographie des Prinzen Kwan Li. Er war einer der Neffen des Kaisers gewesen und hatte als tapferer General mehrere berühmte Siege im äußersten Westen errungen, wo das Kaiserreich beharrlich versuchte, die Moslems zu unterwerfen. In Anerkennung seiner Verdienste auf dem Schlachtfeld war er zum amban ernannt worden, zum kaiserlichen Botschafter in Tibet. Auf der Diskette fanden sich nun mehrere Versammlungsprotokolle. Alle Daten lagen einige Jahre zurück.
Die Projektgruppe und ihr Name ließen auf eine hochrangige Regierungsbeteiligung schließen. Shan wies auf die Teilnehmerliste am Ende des Bulletins. Es waren nur chinesische Namen, viele davon mit Berufsbezeichnung. Ein leitender Beamter vom Büro für Öffentliche Sicherheit, ein hoher Abgesandter des Parteisekretariats, des Büros für Religiöse Angelegenheiten, des Kultusministers, der Leiter der chinesischen Nationalbibliothek und der oberste Kurator des Museums der Verbotenen Stadt. Ein Geschichtsprofessor der Universität Peking.
»Man hat eine neue öffentliche Informationskampagne erwogen, basierend auf historischen Geschehnissen«, sagte Yao nach kurzer Lektüre und schaute zu Shan. Das war eines der seltsamen Überbleibsel der Mao-Ära: Hin und wieder gab man einen neuen – zumeist längst toten – Helden bekannt, um an dessen Beispiel das korrekte sozialistische Gedankengut zu erläutern. »Zur Auszeichnung des heroischen Neffen eines verehrten Kaisers. Hier steht, der amban sollte eigentlich aus Tibet in die Hauptstadt zurückkehren, um an den Feiern teilzunehmen, dieanläßlich der langen Regentschaft von Kaiser Qian Long und der Inthronisierung seines Nachfolgers abgehalten wurden. Aber er ist unterwegs verlorengegangen. Zu den genauen Umständen existieren widersprüchliche Aufzeichnungen. Das Komitee hat entschieden, daß Kwan Li den Krieg zwischen zwei kleinen Stämmen beilegen wollte, der unter den örtlichen Bauern bereits furchtbare Verluste gefordert hatte. Der Prinz wurde bei diesem Versuch getötet und brachte damit im Dienste der Unterdrückten das höchste Opfer.«
Yao scrollte schweigend durch die nächsten Seiten, blickte auf und zuckte die Achseln. Es schien sich lediglich um das übliche Pekinger Verfahren zur Krönung eines neuen Volksheiligen zu handeln. Solche Helden wurden ein- oder zweimal im Jahr entdeckt. Man würde das eine oder andere Buch darüber schreiben, in den Reden der Parteifunktionäre entsprechende Verweise unterbringen und womöglich eine Statue des neuen Vorbilds in Auftrag geben oder ihn in die Lehrpläne der Schulen eingliedern. »Da ist nichts«, sagte Yao. »Am Ende wurde der amban zugunsten eines anderen Helden fallengelassen, der besser zu einer aktuellen Politkampagne paßte.«
»Doch obwohl Ming gar kein Mitglied der Kommission war, hat er plötzlich beschlossen, alle zugehörigen Unterlagen zusammenzutragen, sogar die Geheimdokumente. Und zwar vor zwei Monaten.« Shan deutete auf ein Datum am Ende der Datei. »Drei Tage nach dem Diebstahl.«
Yao starrte stumm auf den Monitor. »Es ergibt keinen Sinn. Vielleicht kauft er ja tatsächlich Fälschungen von Lodi und verschachert die Originale an Leute wie Dolan. Aber das steht in keiner Verbindung zu dem amban .«
»Die Verbindung ist Kaiser Qian Long«, sagte Shan.
Auf der nächsten Diskette befand sich das eingescannte Abbild eines alten Dokuments mit eleganten chinesischen Ideogrammen, offenbar ein Brief auf eingerolltem Pergament. Yao fing an, laut vorzulesen.
»Sohn des Himmels«, begann er, »geachtet von allen Völkern.« Er kam nur schwer mit den alten Ideogrammen zurecht und stöhnte leise auf. Dann scrollte er weiter. Am unterenRand der Seite stand die Inventarnummer eines Museums. Es war ein Dokument aus Mings Pekinger Archiven. Ein zweiter Brief mit der gleichen blumigen Begrüßung folgte und dann noch einer. Insgesamt zehn Briefe, ein jeder mit den zinnoberroten Farbresten eines Wachssiegels.
Die nächsten drei Disketten enthielten weitere Briefe, alles in allem also vierzig Exemplare, alle in der gleichen eleganten Handschrift, alle mit identischer Grußformel, alle mit Inventarnummern. Auf den folgenden vier Disketten fanden sich Computerabschriften der Briefe. Die Texte schienen einer strengen Konvention zu folgen,
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