Der verlorene Sohn von Tibet
Korruption. Während ich an meinem Bericht schrieb, hat er meine Nominierung veranlaßt.«
Yao lachte trocken auf. »Haben Sie Ihren Mann erwischt?«
»Das Justizministerium hat nach eigenem Ermessen beschlossen, den Fall nicht weiterzuverfolgen.«
»Und Sie können einfach nicht lockerlassen«, sagte Yao achselzuckend und trat einen Schritt vor. »Sie sollten lieber begreifen, daß Ming sich völlig korrekt verhält.« Er steckte eine Stiefelspitze in die lockere Erde und legte das Band wieder frei. »Die Artefakte gehören dem Staat, und ein Massenverhör gilt als höchst effiziente Maßnahme im Umgang mit Einheimischen.«
Er hob die zerbrochene, schmutzverkrustete Kassette auf, warf Shan stirnrunzelnd einen kurzen Blick zu und benutzte sie wie eine Schaufel, um das Loch zu vergrößern. Dann stand er auf, holte die anderen drei Kassetten aus der Jacke, warf sie zusammen mit dem ersten Band in das Loch und schob mit dem Stiefel Erde darüber. »Aber er ist so übereifrig. Ich finde das widerlich. Alte weinende Leute auf einer Videoaufnahme, und direkt daneben steht ein Soldat. Ich dulde in meinen Gerichtsverfahren keine derartigen Beweise.« Er sah Shan an, und seine Züge verhärteten sich. »Falls Sie so etwas noch mal versuchen, lasse ich Sie zurück ins Lager bringen und vergrabe jeden Hinweis auf Ihre Existenz so tief im System, daß niemand Sie je wiederfinden wird.« Er trat die Erde fest. »Was ich gerade getan habe, stand mir von Amts wegen frei. Was Sie getan haben, war ein Verbrechen gegen den Staat.«
Als Shan und Yao auf das Gelände zurückkehrten, hielt Ming im Konferenzraum bereits wieder hof. Sie blieben kurz am Eingang stehen und hörten den Direktor erklären, weshalb eine der anvisierten Höhlen wahrscheinlich auf einem hohen quadratischen Berg lag und sich gen Westen öffnete. An der Wand hing nun eine topographische Karte. Ein Armeeoffizier wies mit einem hölzernen Zeigestock auf mögliche Standorte.
Shan wollte eintreten und die Karte genauer in Augenschein nehmen, aber Yao zog ihn weg. Wortlos folgte Shan ihm durcheine kleinere Tür am Ende der Eingangshalle in einen Korridor, vom dem sechs Durchgänge abzweigten. Sie kamen an einem unbesetzten Büro vorbei, auf dessen Schreibtisch sich Papiere häuften. Hinter der geschlossenen zweiten Tür drangen die Geräusche und Gerüche einer Küche hervor. Die nächsten drei Räume waren wie Hotelzimmer mit Nummern versehen, und in einem machte eine chinesische Wirtschafterin soeben das Bett. Yao öffnete die letzte Tür, ließ Shan eintreten und behielt dabei den Flur im Auge. Dann schloß er die Tür und schaltete die helle Deckenbeleuchtung ein.
Der hohe Raum wirkte wie eine kleine Kapelle. Die Wand gegenüber der Tür war mit Zedernbohlen verkleidet, deren glänzende Patina auf ein hohes Alter hindeutete. Auch die anderen Mauern lagen unter Holz, doch man hatte es gelb lackiert. An einer der Wände hingen die Porträts verstorbener Würdenträger der Partei und dazwischen eine rote Flagge, in deren oberer linker Ecke vier kleine gelbe Sterne im Halbkreis einen großen Stern umringten. Der Großteil des Zimmers wurde von einem drei Meter langen Tisch eingenommen. Yao eilte zum hinteren Ende, wo ein Laptop auf der Plastiktischdecke stand, schaltete das Gerät ein und klopfte ungeduldig auf das Gehäuse, während der Bildschirm sich erhellte. Dann steckte er eine der Disketten aus Bumpari in das Laufwerk. Das Logo des Museums für Altertümer erschien, gefolgt von einer vertrauten Überschrift und den Zeilen eines weiteren Pilgerleitfadens.
Hastig überprüften sie die anderen Disketten, einschließlich der Exemplare, die Shan in Verwahrung genommen hatte. Drei enthielten ebenfalls Pilgertexte sowie eine Datei, in der das Ergebnis eines Suchlaufs abgespeichert war. Jemand hatte nach wiederkehrenden Querverweisen gesucht, und zwar anhand von vier tibetischen Ortsnamen: Dom Puk, Zetrul Puk, Kuden Puk, Woser Puk. Bärenhöhle, Wunderhöhle, Höhle des Lama-Throns, Höhle des Lichts. Genau wie Shan vermutet hätte, tauchten diese Namen wiederholt auf, und zwar jeder an mehreren Orten überall im alten Tibet. Doch nun hatte Ming entsprechende Stätten im Umkreis von Lhadrung ausfindig gemacht.Die letzte Diskette enthielt ein Verzeichnis geschäftlicher Transaktionen.
Yao bemerkte hinter dem Computer eine kleine Diskettenbox, auf der Mings Name stand. Nach einem kurzen Blick zur Tür öffnete er die Schachtel und schob die erste Diskette ins
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