Der verlorene Sohn von Tibet
Shan.
»Er hat sich bei mir nach dem Herrn der Toten erkundigt. Das fragt er jeden. Aber darüber weiß ich nichts. Dann hat er die anderen aus dem Zimmer geschickt und mich nach dem Bergbuddha ausgehorcht. Er sagte, er könne mich reich machen.«
»Welcher Bergbuddha?«
Gequält lächelte Tashi, nahm Shan den Lappen aus der Hand und wischte sich das Gesicht ab. »Meine Mutter hat mir davon erzählt. Der goldene Buddha von Zhoka, der in Nyen Puk gelebt hat.«
Nyen Puk. Die Höhle des Berggottes. Die Worte, die Lodi geschrieben und Surya wieder getilgt hatte.
Yao lief in einen der anderen Räume und kehrte gleich darauf mit einer Flasche Wasser zurück. Tashi trank sie gierig leer. Dann zog er sich mühsam am Türrahmen hoch und trat auf den Korridor hinaus. »Die anderen müssen mir unbedingt zuhören. Sie glauben, ich lüge für die Chinesen. Aber ich lüge nie, so bleibe ich am Leben. Jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt. Sie müssen ihn wieder eingraben und verstecken. Meine Mutter war überglücklich, als sie hörte, daß der goldene Buddha endlich wieder seine Augen geöffnet hat.«
Tashi atmete tief durch und warf Shan einen flehentlichen Blick zu. »Die da oben in den Bergen glauben, sie seien geschützt. In Zhoka ist ein alter Lama aufgetaucht. Er sagt, mit Hilfe des Buddhas würden sie alle Sträflinge der Zwangsarbeitsbrigade befreien. Die begreifen gar nichts.« Er klang müde. »Aber diese Leute aus Peking … wenn die kommen, folgen große Veränderungen. Ob dabei Menschen sterben, ist ihnen völlig egal. Dieser Ming will vor allem die Toten befragen.«
Mit diesen Worten lief er an Shan und Yao vorbei, stieß die andere Tür auf und floh im Schutz der Nacht.
Kapitel Zehn
»Bei ihm klang das so, als würde sich eine Art Ungeheuer aus den Hügeln erheben«, sagte Yao, der am Steuer des Wagens saß, mit dem sie bei Tagesanbruch in die Stadt fuhren. »Der Bergbuddha. Wer oder was ist das?«
»Ich weiß es nicht«, räumte Shan ein. »Ich habe noch nie davon gehört.« Und auch in anderer Hinsicht mußte er sich verhört haben. Zumindest redete er sich das immer wieder ein. Vielleicht hatte Tashi auch irgend etwas falsch verstanden. Niemand konnte ernstlich daran glauben, daß es möglich sein würde, die Gefangenen zu befreien.
»Ming nimmt Tashi deswegen in die Mangel, und als Tashi, Tans bester Spitzel, zum erstenmal in seinem Leben nichts verraten will, beschließt Ming, sich dringend wieder in die Berge zu begeben«, faßte Yao zusammen. Er hatte während der Fahrt zunächst nachdenklich geschwiegen, genau wie am Vorabend nach Tashis Flucht.
Der Inspektor hatte Shan in sein Zimmer mitgenommen und eine halbe Stunde lang wortlos seine Notizen vervollständigt. Dann hatte er für Shan eine Decke und ein Kissen auf den Boden geworfen. Shan wußte, in welcher Zwangslage Yao steckte. Das große Problem des Inspektors waren nicht die eigentlichen Ermittlungen, sondern der politische Aspekt. Yao war als Leiter einer polizeilichen Untersuchung in Lhadrung eingetroffen, und Ming hatte ihn unterstützen sollen. Nun aber hatte Ming eigenmächtig den Befehl übernommen, direkten Kontakt zu den vorgesetzten Behörden hergestellt und sich aus Lhasa sogar eine beträchtliche Erweiterung der eigenen Befugnisse besorgt. Ming hatte in diesem merkwürdigen Spiel die politische Initiative ergriffen.
Mitten in der Nacht wollte Shan sich davonschleichen, abergerade als er die Tür zum Korridor öffnete, packte Yao ihn am Arm und hielt ihn zurück.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte der Inspektor. »Kann schon sein, daß Ming nicht mehr dasselbe will wie am Anfang, aber das spielt keine Rolle. Ich werde kriegen, weswegen ich hergekommen bin.« Er schien mit sich selbst zu ringen.
»Ich habe einen Lehrer«, erwiderte Shan. »Er sagt, starke Geister müssen bei der Suche nach Wahrheit Vorsicht walten lassen, denn diese Wahrheit könnte auf sie zurückschlagen.«
»Was soll das heißen?«
Shan schaute den dunklen Gang hinunter. »Wenn genug auf dem Spiel steht, werden sogar die höchsten Ermittler entbehrlich.«
Yao funkelte ihn wütend an. »Glauben Sie etwa, ich habe Angst?«
»Ich mache mir Sorgen um Sie.«
Die Augen des Inspektors verengten sich. »Manchmal kommen Sie mir wie ein simpler Politoffizier der Tibeter vor.«
Shan starrte in die Schatten.
Yao ließ seinen Arm los. »Ich brauche immer noch einen Führer.«
»Ich weigere mich.«
»Dann brauche ich eben einen Helfer«, entgegnete
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