Der verlorene Sohn von Tibet
ein paar Buchstaben ein. Plötzlich verschwamm das Abbild auf dem Schirm, und die Schriftzeichen gruppierten sich neu. Der Text des letzten Dokuments tauchte auf.
Es handelte sich um fünf weitere Schreiben des amban , die man gemeinsam in einer Datei gespeichert hatte, kurze Briefe, die im Laufe eines Jahres entstanden waren und nicht in den offiziellen Unterlagen des Projekts Amban auftauchten. Sie enthielten nicht mehr die blumigen Floskeln der frühen Korrespondenz, sondern klangen eher wie der Austausch zweier alter Freunde, die einander nichts mehr vorzumachen brauchten. Der erste Brief dankte dem Kaiser für die Billigung desÜbertritts zum buddhistischen Glauben sowie für seinen Gebrauch der Worte der Sutras. Außerdem ersuchte der amban um Nachsicht für seine verspätete Abreise nach Peking, da er noch etwas Zeit benötige, um die wertvollsten Schätze zusammenzutragen, die der Kaiser je erblickt habe.
Das zweite Schreiben berichtete von guten Fortschritten bei den Bemühungen des amban , tibetische Künstler mit der Anfertigung von Meisterwerken zu Ehren des Kaisers zu beauftragen. In manchen Fällen habe der amban es für notwendig erachtet, die Künstler infolge ihres hohen Alters persönlich aufzusuchen, darunter auch einige Einsiedler, die in Höhlen der Umgebung lebten: Dom Puk, Zetrul Puk, Woser Puk und Kuden Puk. Nach genau diesen Orten hatte Ming in seiner Datenbank suchen lassen, und offenbar war es ihm nun gelungen, sie in Lhadrungs Umgebung ausfindig zu machen.
Im dritten Brief stand, der amban habe den Ursprungsort der großartigsten Kunstwerke entdeckt, die er oder der Kaiser sich auch nur erträumen könnten. Derzeit halte er sich in dem alten Kloster auf, um Freundschaft mit den Lamas zu schließen und den unendlich kostbaren Bergbuddha zu besuchen. Man arbeite an einem wundersamen mechanischen Mandala aus Gold und Silber, und um den Kaiser zu ehren, sei ihm eine schwarze Steinstatue des Schutzgottes Jambhala gewidmet worden, deren Fertigung zwei Jahre gedauert habe.
Der vierte und längste Brief war mehrere Monate später geschrieben worden und enthielt eine noch bedeutendere Enthüllung. Die Lamas hätten herausgefunden, daß Kwan Li in Wahrheit die Reinkarnation ihres größten Führers sei, und ihn zum Abt des alten Tempels der Erdbändigung ernannt, eines Ortes, an dem Götter herangezogen würden wie anderswo Blumen in einem Garten.
Das fünfte Schreiben berichtete, der Abt habe das ehrende Angebot des Kaisers erhalten, das er hier nicht genauer ausführen wolle, um das Geheimnis nicht preiszugeben. Man treffe weitreichende Vorkehrungen, und der Abt werde sich vor der Abreise in die Hauptstadt eine Weile zurückziehen, um insgeheim den Transport der kaiserlichen Schätze in die Wegezu leiten. Vorab würden die kaiserlichen Boten in Lhasa das halbe thangka der Schutzgottheit des Klosters erhalten, einer besonderen Erscheinungsform des Herrn der Toten. Falls dem Abt während der beschwerlichen Reise etwas zustieße, wolle er die Schätze verstecken und die andere Hälfte des thangka einem zuverlässigen Lama anvertrauen, der es dem Kaiser überbringen solle. Sobald man die beiden Hälften vereinte, würde sich dem Kaiser daraus das Versteck der Schätze erschließen. Ich werde wie die Sutras später noch den Rest des Todes erläutern, endete der letzte Brief.
»Es geht also nicht nur um Politik«, sagte Tan langsam und mit eisiger Stimme. Sie wußten nun, weshalb Ming so eifrig nach Informationen über Heiligtümer suchte und warum er unbedingt den Namen und das genaue Aussehen des Schutzgottes herausfinden wollte.
»Ming will alles auf einmal«, knurrte Yao. »Den politischen Schatz für seinen öffentlichen Status und den Schatz aus Gold und Silber für sich und seine Partner.«
»Was ist mit diesem Angebot des Kaisers gemeint?« fragte Tan.
»Das steht nirgendwo«, antwortete Shan.
»Und von welchem Tempel ist die Rede?«
Shan und Yao sahen sich an. »Das steht auch nirgendwo«, sagte der Inspektor.
»Aber er soll in Lhadrung liegen.« Tan wurde wieder wütend. »Ming behauptet, der amban sei in Lhadrung ermordet worden.« Er schlug sich mit der Faust auf die Handfläche. »Warum gerade jetzt? Was ist geschehen?«
Yao zuckte die Achseln.
»Es fing mit dem Diebstahl in Qian Longs Wohnhaus an«, vermutete Shan. »Ich glaube, durch die Entfernung des Wandgemäldes wurde etwas bis dahin Unbekanntes freigelegt. Die geheimen Briefe des amban .«
Die Datei umfaßte noch eine
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