Der verlorene Sohn von Tibet
dem Inspektor in eines der Büros, setzte sich an einen Computer, stellte sofort eine Verbindung zum FBI-Netzwerk her und gab ein weiteres Mal die Zugriffscodes ein. Die Anfrage hatte Seattle mitten am Tag erreicht, und Corbetts Team war seitdem nicht untätig geblieben.
He, Boß, wir haben uns schon Sorgen gemacht – schön, von Ihnen zu hören , fing die erste Nachricht an. Um auf Nummer Sicher zu gehen, haben wir unsere Postfächer Tag und Nacht nicht aus den Augen gelassen. Ihre Fragen sind alle angekommen; wir melden uns so schnell wie möglich. Bailey. Die zweite E-Mail war zwei Stunden später abgeschickt worden und trug den Betreff Dolans Reisen in die Volksrepublik China . Der Überblick umfaßte die letzten zehn Jahre; im Durchschnitt ergaben sich zwei Reisen pro Jahr. Die nächste Nachricht trug den Titel Finanzielle Zuwendungen von Dolan an die VRC . Allein aus den letzten drei Jahren wurde fast ein Dutzend Fälle aufgeführt: ein archäologisches Projekt in der Inneren Mongolei, drei Sonderausstellungen des Museums für Altertümer, Computerzentren in fünf Städten, die Restaurierung eines kaiserlichen Tempels in der Mandschurei. Bei Mings Forschungsreisen sollten Fresken aus alten, in der Wüste verschütteten Tempeln geborgen werden , hatte Bailey hinzugefügt.
Die Überschrift des nächsten Berichts lautete Dolans Telefonate in die VRC . Shan rief Yao zum Monitor. Während er die Liste langsam hinunterscrollte, deutete der Inspektor immer wieder auf einzelne Nummern. »Das Museum für Altertümer«, sagte er angespannt. »Der Kultusminister. Der Justizminister.« Dann sahen Shan und er sich an. Alle zuletzt erfolgten Anrufe, allein zehn in der vergangenen Woche, hatten tibetischen Telefonnummern gegolten.
Noch während sie auf den Bildschirm starrten, kündigte ein leiser Piepton mehrere neue E-Mails an, alle mit Bailey als Absender. Eine Liste von Dolans chinesischen Kapitalanlagen: Die Privatfirmen des Amerikaners besaßen sieben Fabriken in ostchinesischen Städten und waren an einem Dutzend Joint ventures beteiligt. Es folgte eine hastige Nachricht, die Shan nicht verstand. Der Chef hat herausgefunden, daß Sie sich für den Babysitter interessieren. Er hat die Akte schließen lassen. Dann kamen ein paar Zeilen über Elizabeth McDowell. Kunstberaterin für Dolan, Miteigentümerin von Croft Antiquities mit Büros in Seattle und London. Ist mit derselben Maschine wie William Lodi nach Lhasa gelangt. Weder McDowell noch Lodi hatten diesen Flug im voraus gebucht.
Die letzte Nachricht enthielt Bilddateien mit Fotografien sowie eine Reihe von Artikeln über Dolans berühmte tibetische Sammlung. Shan wies wortlos auf mehrere kleine Bilder auf dem Monitor und hielt jeweils den Katalog daneben, den Liya ihnen gegeben hatte. Alle Stücke, auch der Heilige aus dem vierzehnten Jahrhundert, der sein Schwert der Weisheit schwang, fanden sich in Dolans Sammlung wieder, aber keines davon in seiner Verlustmeldung an die Versicherung.
»Vielleicht hat Dolan sie noch in seinem Besitz«, wandte Yao tonlos ein.
»Nein«, sagte Shan. »Corbett hat die Tatortberichte gelesen und die Fotos der Regale und Schaukästen gesehen. Es hieß, alle tibetischen Stücke seien gestohlen worden. Lodi wollte die ursprünglich aus dem Museum stammenden Exponate nach Peking zurückbringen, und zwar wegen der anstehenden Überprüfung. Womöglich ging es ihm einzig und allein um dieseStücke, und der Rest war nur Tarnung und hätte ebensogut in Amerika bleiben können. Aber dann hat er aus irgendeinem Grund seine Pläne geändert und ist völlig unvermutet direkt nach Tibet gereist.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich glaube, daß der Heilige mit dem Schwert, den Lodi bei sich trug und der bei den Fleischzerlegern zerstört wurde, das Originalstück aus Dolans Besitz war. Lodi hatte die Figur an Liya weitergegeben. Sie sollte darauf aufpassen. Sein Zimmer in einem Pekinger Hotel war bereits gebucht, aber er ist nie dort aufgetaucht. Ihm blieb in Peking keine Zeit, die Statue gegen die Kopie auszutauschen.«
»Und was sollte dann die Zerstörung der Figur?«
»Liya sagte, die beiden Männer hätten damit eine Botschaft nach Bumpari schicken wollen, aber ich glaube, die Nachricht war für jemand anderen bestimmt. Für die Person, die durch die Vernichtung der Statue den größten Schaden davontragen würde.«
»Ming«, stieß Yao wütend hervor. Er musterte kurz den Bildschirm und tippte dann eine neue Frage ein: Welche
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