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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Reisen hat Direktor Ming in der Woche nach dem Raub unternommen? Shan und er sahen sich wissend an. Yao durfte es nicht riskieren, diese Frage in Peking zu stellen, aber das FBI konnte Zugriff auf die Unterlagen der Fluggesellschaften nehmen.
    Ein halbe Stunde später hatten sie die letzten der von Ming zusammengetragenen alten Briefe überprüft. Es fand sich kein Hinweis auf das weitere Schicksal des amban . Immerhin ging aus den Dokumenten eindeutig hervor, daß Kaiser Qian Long seinen Neffen explizit gebeten hatte, die Militärlaufbahn zu beenden und als Botschafter nach Tibet zu gehen. Dort sollte er nicht bloß die Rolle des obersten chinesischen Repräsentanten spielen, sondern außerdem Lamas finden, die gewillt waren, nach Peking zu reisen und am kaiserlichen Hof zu dienen. Schon nach einem Jahr im Amt hatte der amban nicht nur ein Dutzend Lamas geschickt, sondern mit Unterstützung seines mächtigen Onkels zudem dafür gesorgt, daß man in einem halben Dutzend ostchinesischer Städte buddhistische Tempel errichten würde.
    Ein leises Geräusch ließ sie sich umdrehen. An einem Tisch neben der Tür saß Tan und nippte an einem Becher Tee. »Bis vor einiger Zeit gab es hier überhaupt keine auswärtigen Besucher, es sei denn als Lagerinsassen der 404ten«, merkte der Oberst in schneidendem Tonfall an. »Letzten Monat kamen zwei hinzu, Ming und McDowell. Mittlerweile sind es nach letzter Zählung etwa ein Dutzend, hergeholt von Direktor Ming. Das Oberkommando hat mir ein Fax geschickt. Ich wurde angewiesen, die Leute nach besten Kräften zu unterstützen. Und jetzt hat mich mein vorgesetzter General angerufen und mir ein kleines Geheimnis verraten. Direktor Ming ist während des letzten Jahres um zwei Parteiränge aufgestiegen. Noch ein oder zwei Jahre, und er ist Minister.«
    Yao stand auf und sah Tan an, als müsse er sich zunächst eine Antwort zurechtlegen. Der Oberst wies auf einen Tisch außerhalb des Büros, auf dem eine Thermoskanne und mehrere Tassen standen. Shan und der Inspektor bedienten sich schweigend. Als sie sich mit ihren Getränken wieder am Computer niedergelassen hatten, berichtete Shan von Mings Interesse für den längst verstorbenen amban und zeigte Tan die auf der Diskette gespeicherten Briefe.
    »Ein Rapport zu diesem Thema soll noch heute nach Peking geschickt werden«, verkündete Yao. »Der Titel lautet Politische Attentate im Bezirk Lhadrung .«
    Tans Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Eine Lüge. In meinem Bezirk gibt es keine Attentate.«
    »Der Fall liegt mehr als zweihundert Jahre zurück«, hob Yao hervor.
    Shan wußte, daß das Datum für Tan kaum eine Rolle spielte. Sobald ein bis dahin unbekannter Mord gemeldet wurde – vor allem ein Mord aus politischen Motiven –, zog das ein unerwünschtes Interesse für den betreffenden Bezirk und dessen Leiter nach sich.
    »Ein neuer Märtyrer«, sagte Tan und schaute aus dem Fenster. »Vor vier oder fünf Jahren habe ich an einer Konferenz in Lhasa teilgenommen. Damals war dieser Kwan Li schon einmal im Gespräch. Tote sind der Politik stets dienlicher als Lebende.Ich dachte, man habe die Idee wieder fallengelassen. Jemand muß zu dem Schluß gelangt sein, das Volk benötige ein paar neue Lektionen über die Integration Tibets in das Mutterland. Bald wird es kleine Anstecknadeln mit seinem Porträt geben. Ansprachen an die Schulkinder, Ansprachen von Schulkindern.« Er hielt inne und sah wieder Shan und Yao an. »Aber er kann gar nicht herausgefunden haben, daß der amban in Lhadrung gestorben ist. Das ist unmöglich. Die chinesischen ambans hatten nie in Lhadrung zu tun. Es liegt weit abseits der Route nach Peking. Prinz Kwan ist im Norden umgekommen.« Tan zündete sich eine Zigarette an. »Er ist wegen des Wandgemäldes hier. Falls er es nicht finden kann, sollte er abreisen.« Er starrte erneut aus dem Fenster und schien mit sich selbst zu reden. »Ich habe einige Erkundigungen eingezogen. Ming wollte ursprünglich eine Exkursion in die Mongolei unternehmen. Erst zwei Wochen vor Abreise wurde alles auf Lhadrung geändert.« Als er den Kopf wandte, funkelte kalte Wut in seinem Blick. »Anstatt von einer Exkursion war plötzlich von einem gänzlich neuen Projekt im Norden die Rede, angeblich zur Erforschung der Hirtenkulturen. Doch ich habe mich vergewissert. Es ging um den Ort, an dem Kwan Li vor zweihundert Jahren vermeintlich umgebracht wurde. Mings Sinneswandel setzte kurz nach dem Diebstahl des Freskos

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