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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ein.«
    Tan stand auf, ging den Flur hinunter und kehrte wenig später mit einer verstaubten Mappe zurück. Er zog daraus eine zwischen zwei Klarsichtdeckeln eingebundene Akte hervor und reichte sie Shan. »Ganz hinten«, sagte der Oberst.
    Die letzten Seiten enthielten die Abschrift des Berichts eines kaiserlichen Gesandten, der zur Suche nach dem vermißten amban ausgeschickt worden war. Das Datum des Dokuments lag einen Monat vor der Abdankung von Kaiser Qian Long. Der hochrangige Mandarin brachte darin seine Enttäuschung zum Ausdruck, weil es ihm nicht gelungen war, Kwan Li oder wenigstens dessen Leichnam aufzuspüren. Statt dessen führte er zahlreiche eidliche Zeugenaussagen an, laut denen der amban von der Tradition abgewichen sei und seine reguläre chinesische Eskorte in Lhasa zurückgelassen habe, um als Zeichenguten Willens in Begleitung tibetischer Soldaten zu reisen. Als man sich inmitten einer zerklüfteten Berglandschaft achthundert Kilometer nördlich von Lhasa befunden habe, sei der amban auf zwei Stämme gestoßen, die einander wegen eines Streits um Weidegründe befehdeten. Voller Hoffnung, als Vermittler dienen zu können, und ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit sei der amban zu dem Schlachtfeld emporgestiegen. Dort habe er sich mit den Anführern getroffen und tatsächlich eine Einigung bewirken können, die vorsah, das strittige Gebiet in Zukunft gemeinsam zu nutzen. Bei einem Festmahl zur Feier des Abkommens habe ein wütender Krieger die Einmischung des Fremden nicht dulden wollen und ihn mit einem Pfeilschuß durch die Kehle getötet. Mit seinen letzten Worten habe Kwan Li den Kaiser um Nachsicht gebeten. Die Stämme jedoch hätten die voraussichtliche Reaktion des Kaisers gefürchtet und daher auch die Eskorte ermordet. Dann seien sie tief in die Berge zurückgewichen, hätten die Leichen mitgenommen und es einigen am Schauplatz des Geschehens aufgetauchten Lamas überlassen, die Todesriten abzuhalten.
    Um seine Arbeit abzuschließen, war der kaiserliche Ermittler nach Lhasa gereist. Dort hatte er keine gegenteiligen Anhaltspunkte gefunden, abgesehen von der Aussage eines betrunkenen Schneiders, der in Diensten des amban gestanden hatte und behauptete, man habe ihn am Vorabend der Abreise Kwan Lis gebeten, mehrere Mönche mit den Uniformen der tibetischen Soldaten auszustatten. Die Angaben ließen sich nicht belegen, und der Schneider verschwand nach dem ersten Gespräch spurlos von der Bildfläche. Der Ermittler vermutete daraufhin eine tibetische Verschwörung gegen den amban , der womöglich ohne militärischen Schutz und nur in Begleitung verkleideter Mönche gereist sei. Er riet dem Kaiser, Truppen zu entsenden, um die Bergstämme aufzuspüren und zu vernichten, da sie entweder als Täter oder Mitverschwörer gelten mußten. Ferner bat er darum, erneut nach Tibet reisen zu dürfen, um die beteiligten Mönche ausfindig zu machen. Der Bericht endete mit dem Vermerk eines kaiserlichen Sekretärs, laut dem der Kaiser es abgelehnt hatte, militärisch einzugreifen oder weitere Nachforschungenanzustellen. Der Mandarin wurde auf einen hohen Posten in einer der Südprovinzen versetzt.
    »Mir ist nicht ganz klar, warum Ming seit seiner Ankunft immerzu mit Peking telefoniert hat«, sagte Tan, als Shan die Akte zuklappte.
    »Weil er eine günstige politische Gelegenheit wittert«, sagte Shan. »Was er hier tut, hat wenig mit der Arbeit eines Wissenschaftlers gemein. Aber es ist genau das Verhalten, das jemand an den Tag legt, der Minister werden möchte.« Shan deutete auf den Monitor des Computers. »Es gibt noch ein Dokument, aber Ming hat es verschlüsselt.«
    »Weil es zuviel erklärt?« mutmaßte Tan.
    Sie verharrten schweigend. Tan schaute auf den Bildschirm und den verschlüsselten Brief, Shan aus dem Fenster. »Der Inspektor weiß, daß Sie versucht haben, mich zu verstecken, Oberst«, sagte Shan vorsichtig. »Er weiß auch, daß ich zu keinem Zeitpunkt sein Versäumnis erwähnt habe, nach einer Verbindung zwischen Direktor Ming und Lodi zu suchen.«
    »Was faselst du da?« knurrte der Oberst.
    Yao seufzte und setzte sich an den Computer. »Er meint mich. Er spielt auf eine Übereinkunft an, zu der ich nun auch einen Teil beisteuern soll.« Er betätigte einige Tasten. »Ming hat keine komplexe Verschlüsselung benutzt. Er hat keinen Zugriff auf die höchste Sicherheitsstufe. Allein in Peking dürfte es ungefähr tausend Personen geben, denen dieser Code bekannt ist.« Er tippte noch

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