Der verlorene Sohn von Tibet
Eis gefüllt, das als Kühlung für mehrere Flaschen Orangenlimonade diente. Shan öffnete zwei der Getränke und reichte eines an Ming weiter.
»Sie und ich haben keinen besonders guten Start erwischt«, sagte Ming. »Wir mußten erst unser natürliches Mißtrauen überwinden. Doch seitdem ist eine Menge geschehen. Ich hätte nie damit gerechnet, daß dieser Bezirk dermaßen viele Gelegenheiten bietet. Ich werde vor Ort jemanden benötigen, der weiß, wie man mit den Tibetern klarkommt. Eine Art Einsatzleiter.«
Shan setzte die Flasche mitten im Schluck ab. »Sie bieten mir einen Job an?« fragte er ungläubig.
»Ich würde Ihnen eine neue Zukunft ermöglichen. Zumindest die entsprechenden Voraussetzungen dafür. An Ihrem Status ließe sich gewiß etwas ändern. Ihr gegenwärtiger Zustand ist kaum besser als die Haft.«
»Sie meinen, ich soll dafür verantwortlich sein, tibetische Artefakte aufzustöbern und zu zerstören?«
Ming runzelte die Stirn. »Ich leite ein Museum, keinen Schrottplatz.«
»Das habe ich gestern gesehen«, betonte Shan.
»Diese kleinen Ziergegenstände waren wertlos. Politische Erschwernisse. Sie aus dem Umlauf zu entfernen war ein Dienst am Land. Diese Leute müssen in jeder Hinsicht angeleitet werden. Sie sind wie Kinder. Es ist Teil ihrer Erziehung zum Leben in einem neuen Jahrhundert.«
»Ein Freund namens Surya hat mal zu mir gesagt, Kunst liege im Auge der Gottheit, die sie erblicke. Für diese Menschen waren das Kunstwerke.«
Ming trank aus. »Gottheit hier, Gottheit da. Das scheint fürjeden Tibeter die Ausrede für seine Untätigkeit zu sein. Eine Rechtfertigung der Faulheit.«
Shan starrte auf die Flasche in seiner Hand und mußte an die entsetzten Gesichter der Tibeter auf dem Innenhof denken, als ihre geliebten Altarfiguren aufgebrochen wurden. Eine alte Frau hatte sich den Leib gehalten, als würde man ihr die Eingeweide herausreißen.
Er spürte Mings Blick und hörte den Direktor seufzen. »Ich muß toleranter sein«, sagte Ming. »Entschuldigung. Sie haben recht. Es ist zweifellos Ihr Feingefühl, das Sie so wertvoll macht.«
Shan schaute lange aus dem Fenster und ließ die Ereignisse auf dem Feld noch einmal an sich vorüberziehen. Der Direktor hatte ihn aus einem ganz bestimmten Grund von Yao getrennt. »Ich habe keine Arbeitspapiere«, sagte er.
»Das läßt sich durch einen einzigen Anruf erledigen. Ich könnte ihnen ein Quartier im Gästehaus besorgen. Und eine Limousine oder wenigstens einen Geländewagen.« Ming verringerte das Tempo und schlängelte sich zwischen den Fahrrädern hindurch, die kurz vor der Stadt immer zahlreicher wurden. »Ich könnte Sie ermächtigen, Tibeter anzuheuern«, sagte er bedächtig. »Sagen wir, fünf oder sechs Leute. Ich werde aushandeln, daß das Büro für Religiöse Angelegenheiten das Anwesen im Namen des Museums übernimmt. Sie könnten es nach Ihrem Ermessen restaurieren lassen, mit Geld aus Peking.«
»Was ist mit Oberst Tan und Inspektor Yao?« fragte Shan. Er war nun äußerst konzentriert.
»Tan ist ein Dinosaurier und läßt sich zu gegebener Zeit leicht loswerden. Yao kann abberufen werden. Es könnte ja sein, daß er etwas mißverstanden und irgendwie überreagiert hat. Er würde keinen Makel davontragen, keinen Vermerk in seiner Akte. Er läuft lediglich Gefahr, das Verbrechen falsch einzuschätzen. Sie wissen doch besser als jeder andere, was für ein Schaden daraus entstehen kann. Indem Sie Yao ein wenig auf die Sprünge helfen, sind Sie zugleich uns allen behilflich, vor allem sich selbst und Ihren tibetischen Freunden.«
Shans Mund war plötzlich sehr trocken. Er widerstand dem Impuls, sich noch eine Flasche Limonade vom Rücksitz zu nehmen. »Vielleicht könnte ich nachweisen, daß der Dieb ein Tibeter war und unter einem politischen Vorwand gehandelt hat«, sagte er langsam. »Und daß der Dieb mittlerweile tot ist, zuvor aber noch die geraubten Kunstwerke zerstört hat.«
Ming nickte respektvoll. »Für einen Mann mit Ihrer Begabung dürfte die Rehabilitierung ein leichtes sein«, sagte er und bedachte Shan mit einem spöttischen Lächeln. »Ich habe etwas über Lamas gelesen«, fügte er nach einem Augenblick hinzu. »Angeblich helfen sie manchmal den Sterbenden, eine neue Inkarnation zu finden. Lassen Sie mich Ihr Lama sein.«
Sie durchquerten zügig die Stadt. Shan achtete auf die umliegenden Straßen. Für einen kurzen Moment sah er einen alten Mann in zerlumpter schwarzer Kleidung, der einen
Weitere Kostenlose Bücher