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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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der Kulturrevolution, als man alle höheren Bildungseinrichtungen schloß, war es allgemein üblich gewesen, Lehrer zu körperlicher Arbeit zu verpflichten. Auch Shans eigener Vater hatte zur Klasse der Intellektuellen gezählt, deren Angehörige von Mao als Volksfeinde verunglimpft wurden. Später hatte man die meisten von ihnen rehabilitiert, so daß sie nach zehn oder zwanzig Jahren in ihre ursprünglichen Berufe zurückkehren konnten. Manche, wie sein Vater, hatten die brutalen Schikanen nicht überlebt. Andere waren in den Reihen des Proletariats verlorengegangen. Man hatte sie vergessen, und so mußten sie weiterhin Schwerstarbeit leisten – unter Bedingungen, die an Sklaverei grenzten, ohne spätere Rentenzahlungen, ohne Unterstützung seitens der Regierung und häufig ohne überlebende Verwandtschaft.
    »Sie meinen, Männer wie Ming«, sagte Shan.
    »Ich riet ihm, er solle ins Krankenhaus gehen, aber er sagte, die würden glauben, er sei in den Diebstahl verwickelt. Man würde ihn verhören. Er konnte Polizisten nicht ausstehen. Die ließen ihn zittern, und er war dann so aufgeregt, daß er keinWort herausbekam. Die Diebe wußten, daß er keine Bedrohung darstellte.«
    »Was hat er an jenem Tag gesehen?«
    Der alte Mann ignorierte die Frage. »Man läßt uns in Ruhe, den Professor und mich, die beiden verrückten Alten. Niemand stört sich daran, daß wir nur langsam arbeiten und oft stehenbleiben, um über die Artefakte zu diskutieren und sie nach Kräften zu beschützen. Mein Lehrgebiet waren die frühen Dynastien, deren Höfe im Süden lagen. Jiang war der größere Gelehrte von uns beiden. Er weiß über Qian Long Dinge, die sonst niemand weiß, macht immer wieder neue Entdeckungen und schreibt sich alles auf.« Der alte Mann wechselte weiterhin ständig die Erzählzeit, als sei er sich nicht sicher, ob Jiang auch wirklich gestorben war. »Er weiß, wie man Dinge schützt.«
    Zum erstenmal bemerkte Shan nun die Regale unter der hohen Zimmerdecke. Sie enthielten Hunderte von Gegenständen: Schriftrollen, Weihrauchschälchen. Jadesiegel. Ein kleines Bronzepferd.
    »Es ist noch nicht die rechte Zeit, daß alles bekannt wird«, sagte der alte Mann. »Vielleicht nach einer weiteren Generation. Womöglich sind die Menschen dann nicht mehr so gierig.«
    Shan schaute nachdenklich in die Flammen. Die beiden alten Männer mußten jahrzehntelang in diesem engen Raum gewohnt haben, Verbannte in ihrer eigenen Stadt. Bei den früheren Treffen in den Gärten hatten sie nur selten von ihrer Vergangenheit erzählt. Auch Shan hatte sich gelegentlich versteckt, sobald er irgendwelche Angestellte sah, um nicht von einem seiner privaten Zufluchtsorte vertrieben zu werden. Als Überlebender der Mao-Ära lernte man, Fremden zu mißtrauen.
    »Ich weiß noch, wie ich einmal auf einem der alten Innenhöfe gesessen habe«, warf Yao zögernd ein. »Eine Maus lief an mir vorbei und verschwand in einem Mauerloch. In ihrem Maul trug sie ein kleine Jadeperle.«
    Der alte Mann blickte lächelnd auf. »Hin und wieder haben wir Gehilfen.«
    »Professor Jiang machte sich also Sorgen wegen der Geheimnisse des Kaisers Qian Long«, tastete Shan sich vor.
    »Qian Long hatte gute Gründe für seine Geheimnisse, und während seiner letzten Jahre hat er sie an zahlreichen Orten versteckt.« Er schaute nach oben zu den Regalen. »Wir sind keine Diebe. Diese Dinge gehören uns nicht. Aber den anderen gehören sie auch nicht.«
    »Sie meinen die Männer aus dem Museum.«
    »Dieser Ming brüllte uns an, wenn wir seinen Leuten zu nahe kamen. Es waren Kinder, die er dort an der Restaurierung arbeiten ließ, Studenten, die keine Ahnung hatten, was sie taten. Ich glaube, ihm ist nie eingefallen, daß auch wir Schlüssel zu den Gebäuden hatten, um abends dort sauberzumachen.«
    »Am Tag des Diebstahls war kein Arbeitstrupp eingeteilt«, sagte Shan. »Aber zwei Männer sind trotzdem gekommen, und sie hatten einen Schlüssel. Ein großer Mongole und ein kleiner Mann, ein Experte für Verputzarbeiten.«
    »Jiang ist manchmal in das alte Wohnhaus gegangen, hat sich dort hingesetzt und einfach nur Gedichte gelesen, wie ein Gelehrter am früheren Hof. Er sagte, es käme ihm bisweilen so vor, als würde der Kaiser ihm lauschen. Ein Fresko von einer Wand zu lösen ist eine ziemlich schwierige Arbeit. Vermutlich warteten die beiden darauf, daß irgendein Klebstoff trocknen würde, und sind im Haus herumgelaufen. Dabei haben sie ihn in einem der hinteren Zimmer

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