Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
mit dessen Hilfe Botschaften durch das gesamte Kaiserreich transportiert worden waren. »Der amban ließ all seine Briefe aus Lhasa abschicken, um seinen Aufenthaltsort nicht zu verraten. Der Kaiser wollte unbedingt, daß er zurückkam – das wissen wir aus den Antworten in chinesischer Sprache, die im Altarraum versteckt waren. Qian Long behielt eine Kopie von jedem einzelnen Schreiben, das er verschickte. Er behauptete, die Rückkehr des amban sei überaus wichtig und die Schätze seien gar nicht nötig. Der größte Schatz sei dieHeimkehr des Prinzen Kwan Li. Nach ein paar Monaten wurden alle Briefe nur noch auf tibetisch verfaßt.« Er hielt inne und sah Shan an. »Sie wohnen in Tibet, sagen Sie?«
    Als Shan bestätigte, daß er die tibetische Sprache beherrschte, stand der alte Mann auf, ging in eine dunkle Ecke der Kammer und holte ein Bündel aus zehn Schriftrollen, die mit violetten Seidenbändern verschnürt waren. Auf der Außenseite jeder Rolle war ein Datum vermerkt, so daß sich sogleich die zeitliche Abfolge ergab.
    Hastig überflog Shan die tibetischen Briefe. In einem der Schreiben des Kaisers an den amban brachte Qian Long seine Freude über den neuen Lama zum Ausdruck, den sein Neffe ihm als Berater geschickt hatte, und kündigte an, in der Geburtsstadt Kwan Lis werde ein neuer buddhistischer Tempel errichtet. Im nächsten Brief schilderte der amban den freudigsten Moment seines Lebens, nämlich den Tag, an dem er das Gewand eines Mönchs angelegt habe. Er wohne bei den Mönchskünstlern, die auch die Schätze für den Kaiser geschaffen hatten, lerne ihre Fertigkeiten und erfahre, wie man eine Gottheit auf ein Gemälde übertragen könne. Der Brief ähnelte den Schreiben, die Yao und Shan auf Mings Disketten vorgefunden hatten, war aber in einem persönlicheren, beinahe innigen Tonfall gehalten. Kwan Li erwähnte sodann seine angegriffene Gesundheit und berichtete, er konsultiere die besten der berühmten tibetischen Heiler. Der Kaiser bestätigte, daß die zweite Hälfte des thangka ihm das Versteck des Schatzes verraten würde, klagte über die Intrigen am Hof und darüber, wie schwierig es sei, den richtigen Thronfolger zu finden. Der amban wünschte ihm die nötige Gelassenheit und schrieb, er vertraue auf die Weisheit seines Onkels. Kwan Lis Gesundheitszustand verschlechterte sich. Der Kaiser bot an, Ärzte oder notfalls eine ganze Armee zu schicken, um ihn zu holen. Der amban lehnte dankend ab und schrieb, er fühle sich schon viel besser.
    Shan öffnete die vorletzte Schriftrolle. Es war ein langer Brief Qian Longs, in dem er aufzählte, welche Eigenschaften ein guter Kaiser haben müsse. Dann äußerte er seine Besorgnisdarüber, daß das Reich während seiner Regentschaft zu selbstgefällig und materialistisch geworden sei und die wesentlichsten Dinge aus dem Blick verloren habe. Als Shan den letzten Absatz erreichte, verschlug es ihm fast den Atem.
    »Was ist denn?« fragte Yao gespannt.
    Shan las den Abschnitt erneut, um ein Mißverständnis auszuschließen. »Der Kaiser entschuldigt sich dafür, dies per Brief zu tun, aber die Umstände erforderten es leider. Dann bittet Qian Long den Steindrachen-Lama, seinen Neffen, sein Nachfolger zu werden.«
    Der alte Mann stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände. »Du hattest recht, Jiang!« rief er.
    Shan löste behutsam die Verschnürung der letzten Rolle, der Antwort des amban , las den Text sorgfältig und blickte dann auf. »Er schreibt, er sei zu krank, um zu reisen. Und er lehnt das Angebot ab.«
    »Unmöglich!« keuchte Yao.
    »Aber wahr«, verkündete Shan. Er bemerkte die fragenden Blicke, sagte aber nichts mehr.
    Nach einer Weile wurde ihm klar, daß sie alle in die Kerzenflammen starrten.
    »Haben Sie das tibetische Heim des Prinzen gefunden?« fragte der alte Mann schließlich.
    »Ja, wir haben sein Kloster entdeckt.«
    »Dann nehmen Sie bitte die Briefe mit. Sie werden dort sicherer sein«, sagte er und übergab Shan die Schriftrollen.
    Als Yao aufstand, griff er in die Tasche und reichte dem alten Mann etwas Geld. »Für Professor Jiang«, sagte er.
    Der Mann sah die Banknoten an. »Ich könnte im Tempel Weihrauch entzünden«, sagte er voll Dankbarkeit.
    Der Inspektor gab ihm noch mehr Geld. »Zünden Sie ein ganzes Jahr lang Weihrauch an«, sagte er und trat dann eilig hinaus auf den dunklen Korridor.
    Shan und Yao waren fast schon draußen und näherten sich dem Tor, als der alte Mann sie einholte. Er gab Shan

Weitere Kostenlose Bücher