Der verlorene Sohn von Tibet
Gerüche drangen in den Wagen: gebratenes Schweinefleisch, Chilis, Nudeln, Knoblauch, Kardamom, Ingwer und gedünsteter Reis vermischt mit beißenden Diesel- und Benzindämpfen. Shan starrte ungläubig nach draußen. Er befand sich nicht in Peking, das war unmöglich. Es mußte sich um einen seiner merkwürdigen, substanzlosen Träume handeln.
Sie fuhren geradewegs zur Verbotenen Stadt, parkten an der mächtigen Außenmauer und betraten das uralte Gelände durch die hohen Bögen des Nordtors. Für die Touristen würde sich der Eingang erst in drei Stunden öffnen, und als Shan und der Inspektor die weiten, menschenleeren Innenhöfe überquerten, rief das zahlreiche Erinnerungen wach. Shan mußte daran denken, wie er anfangs mit Vater und Mutter hergekommen war, und wußte sogar noch, daß er anläßlich eines der seltenen Besuche seines Sohnes mit dem vier- oder fünfjährigen Ko einen Ausflug hierher unternommen hatte. Dort in der Halle der Höchsten Harmonie hatte Shans Vater auf den Drachenbeinthron des Kaisers gezeigt und erzählt, daß die Beamten sich dem Herrscher mit drei rituellen Kniefällen und neun Kotaus nähern mußten. Dahinter, beim Tor der Großen Ahnen, hatte seine Mutter ihm ein Gedicht vorgelesen, das vor tausend Jahren von einem der Kaiser verfaßt worden war.
Plötzlich empfand Shan etwas Neues, eine Art Entdeckerfreude. Sie erreichten einen kleinen, stillen Hof vor dem schlichten und eleganten Ruhesitz Qian Longs. Erst jetzt, als er die Schwelle des kaiserlichen Privathauses überschritt, spürte Shan die Last der geschichtlichen Bedeutung ihres Rätsels. Was auch immer sich zwischen dem einflußreichen Kaiser und seinem Neffen vor zweihundert Jahren zugetragen haben mochte, es waren zahllose Schicksale damit verknüpft.
Yao wechselte ein paar leise Worte mit dem Polizisten, der den Eingang des Hauses bewachte. Der Mann schloß die Tür auf und trat beiseite. Das Innere des Hauses hatte nichts von der pompösen Pracht der kaiserlichen Hallen an sich. Es glich mit seinen vielen Schriftrollen und Gemälden der behaglichen Unterkunft eines vornehmen Gelehrten. Das Mobiliar und die Räume waren nicht für formelle Audienzen, sondern für zwanglose Lesungen und Gespräche entworfen worden. Das Zentrum des Hauses bildete ein Speisezimmer mit drei Zedernholzwänden, dessen zwei Eingänge von rot lackierten Säulen flankiert wurden. Auf einer Seite des Tisches hing das Porträt eines frühen Kaisers.
Shan ließ seinen Blick durch den ganzen Raum schweifenund stellte sich dann vor die Wand gegenüber dem Gemälde. Dort war durch den Raub des Freskos auf beträchtlicher Breite das Lattenwerk freigelegt worden, und an den Rändern bröckelte noch immer Verputz auf den Holzboden. Auf dem kostbaren Mahagonitisch, dessen Beine wie die eines Drachen geschnitzt waren, lag ein Stapel Schnellhefter.
»Das ist alles, was wir über den Diebstahl haben«, erklärte Yao. »Die Polizeiberichte, Verhörprotokolle des Personals, Hintergrundinformationen über das Wandgemälde und sogar Gutachten von Kunstexperten über die technische Durchführung der Tat und die notwendigen Transportvorkehrungen. Ihnen bleiben zwei, höchstens drei Stunden.«
Shan hob fragend den Kopf.
Yao zögerte und schaute zu dem jungen Polizisten am Eingang, neben dem nun ein Mann in grauer Uniform stand und auf den Inspektor zu warten schien. Dann wandte er sich wieder Shan zu und kam näher.
»Ich habe Sie angelogen«, sagte er mit reumütiger Stimme. Er schien es nicht fertigzubringen, Shan in die Augen zu sehen. »Wir haben Sie nicht nur aus Tibet mitgenommen, damit Sie uns in Peking helfen. Man wird Sie verhaften. Corbett besorgt die notwendigen Papiere und trifft alle Vorbereitungen. Er wird …« Der Mann in Grau erschien in der Tür zur Eingangshalle. Der Wächter rief Yaos Namen. Der Inspektor runzelte die Stirn. »Lesen Sie die Akten. Vielleicht habe ich etwas übersehen.«
Shan schnürte sich die Kehle zu. Verhaftet. Wie hatte er sich nur so täuschen können? Plötzlich war alles vorbei. Endgültig. Es ergab keinen Sinn, aber das tat es nie, wenn es um jene ging, die Shan haßten und deren langer Arm ihn nach mehreren Jahren nun ein letztes Mal zu fassen bekam. Er sah sich abermals im Raum um und fühlte sich in den letzten Stunden seiner Freiheit auf seltsame Weise Qian Long verbunden. Es kam ihm irgendwie so vor, als habe der Kaiser eigenhändig Shans Schicksal besiegelt. Seinen Untergang.
Doch dann trat einer der
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