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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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eine weitere Schriftrolle, eine ziemlich dünne, bei der es sich ebenfalls um einen Brief zu handeln schien. »Das ist der Abschluß«, sagte er.»Das letzte Schreiben des Kaisers an den amban . Und vielleicht das mächtigste Geheimnis von allen.« Shan steckte die Rolle ein, ohne sie zu lesen.
    Yao folgte Shan in den kleinen Garten hinter Qian Longs Wohnhaus, den stillen Ort, den Shan während seines Pekinger Daseins so häufig besucht hatte. Dort saßen sie schweigend, als wolle keiner zuerst das Wort ergreifen, bis ein Polizist Corbett in den Garten führte und Yao dem Amerikaner flüsternd erklärte, was sie herausgefunden hatten.
    Als Corbett einen leisen Siegesschrei ausstieß, hob Yao die Hand. »Es hat nichts zu bedeuten«, sagte der Inspektor. »Die Aussage eines nicht rehabilitierten Klassenfeindes ist vor Gericht völlig wertlos.«
    »Nein, es hat etwas zu bedeuten«, widersprach Corbett. »Wir brauchen keine Zweifel mehr zu hegen und wissen nun, daß wir recht haben und die anderen böse sind.« Shan blickte auf. Der Amerikaner klang wie Lokesh. »Und das ist ein enormer Unterschied.« Er zog ein Papier aus seiner Jackentasche. »Es geht los«, sagte er und sah Yao an. »Haben Sie es ihm erzählt?« Als der Inspektor nickte, faßte Corbett für Shan die Einzelheiten zusammen. Sie würden Shan neue Kleidung kaufen und am Abend einen Nonstop-Flug nach Seattle antreten. Offiziell galt Shan als Corbetts Gefangener.
    Shan hob mit einem Finger eine Glyzinienblüte an und betrachtete sie interessiert. »Habe ich überhaupt eine Wahl?«
    »Ja, durchaus«, sagte Corbett zögernd.
    »Dann entscheide ich mich dafür, Sie zu begleiten, aber nur unter mehreren Bedingungen. Erstens, ich nehme das zerrissene thangka mit.«
    »Wozu soll das gut sein?« fragte Yao. »Wir haben das Geheimnis noch immer nicht enträtselt.«
    »Doch, vielleicht habe ich das«, erwiderte Shan, ohne es genauer zu erläutern.
    Die beiden Männer musterten ihn schweigend und nickten, erst Yao, dann Corbett.
    »Zweitens, Inspektor Yao verrät uns, wo er heute vormittag gewesen ist.«
    Yao runzelte die Stirn. »Das habe ich Ihnen doch gesagt. In meinem Büro.«
    »Nein. Sie hatten eine Eskorte der Öffentlichen Sicherheit. Die bekommt man nicht für einen Familienbesuch.«
    Der Inspektor zuckte zusammen und senkte den Blick. »Ich habe keine Familie mehr, nur noch eine Nichte. Ich war im Justizministerium.«
    »Im Ministerium oder beim Minister?« fragte Shan.
    »Der Minister hat mich zu einem Gespräch zitiert. Er wurde angerufen und nachdrücklich um meine Absetzung ersucht. Vom Kultusminister und zweien seiner Freunde.«
    »Warum?«
    »Ohne offiziellen Grund. Er wird mich nicht absetzen. Der inoffizielle Grund lautet, daß die drei Männer zuvor ebenfalls Anrufe erhalten haben. Von Mr. Dolan aus Amerika.«
    Shan sah Yao an. »Aber der Justizminister kann den Kultusminister nicht ausstehen«, mutmaßte er.
    »Er hegt den Verdacht, daß es den betreffenden Genossen an der notwendigen Aufmerksamkeit für die sozialistischen Prioritäten mangelt.« Das war eine der politischen Umschreibungen für Korruption.
    »Aufgrund der Beweise, die Sie ihm vorab geschickt haben«, sagte Shan.
    Yao musterte ihn verdrießlich. Sie wußten beide, daß Shan bei einem vergleichbaren Fall abserviert und in den Gulag verbannt worden war.
    »Sie haben uns nie erzählt, warum eine Überprüfung von Mings Museum angeordnet wurde«, stellte Shan fest.
    Nun interessierte Yao sich plötzlich für eine der Blüten. Nach einem Moment hob er den Kopf und richtete seine Worte an einen Sperling auf der anderen Seite des Innenhofs. »Ich hatte meiner Nichte versprochen, sie an ihrem Geburtstag in ein Restaurant zum Essen auszuführen. Vor uns in der Schlange standen einige Leute in unüberhörbarer Partylaune. Sie zückten ihre Visitenkarten und warfen mit Geld nur so um sich. Zu der Gruppe gehörten mehrere Frauen, außerdem ein Amerikaner und ein junger Chinese in einem teuren Anzug,beide mit Sonnenbrillen. Der Amerikaner drehte sich um, legte meiner Nichte die Hand auf die Wange und sagte, sie solle sich zu ihnen gesellen. Noch bevor wir gingen, wußte ich, wer die beiden waren. Dolan und Ming. Am nächsten Tag ordnete ich die Überprüfung an. Ich bin dazu befugt.« Er sah wieder Shan an. »Dieser Kerl hat einfach meine Nichte betatscht«, wiederholte er mit bebender Stimme.
    »Ich werde verrückt«, murmelte Corbett. Es hatte alles nur wegen einer zufälligen Begegnung in

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