Der verlorene Sohn von Tibet
Wachposten ein und reichte Shan ein gefaltetes Stück Papier. »Verzeihung. Ich soll Ihnen dies von Inspektor Yao geben, Sir.«
Es war eine hastig hingekritzelte Notiz. Sie begleiten Corbett als Hauptzeuge nach Amerika. Abflug ist heute abend.
Shan las den Zettel zweimal, drehte ihn um und las ihn erneut. Das war unmöglich. Mit jeder Stunde sehnte er sich stärker nach Lhadrung, wo er Gutes bewirken konnte, doch Yao und Corbett planten insgeheim, ihn auf die andere Seite des Erdballs zu bringen. Allmählich wurde er sich der eigenen Hände bewußt. Sie hatten ein mudra gebildet, den Diamanten des Verstands. Er sann lange darüber nach. Dann schlug er die erste Akte auf.
Als Yao zwei Stunden später zurückkehrte, hatte Shan alle Unterlagen durchgesehen. »Eigentlich besteht nicht der geringste Zweifel daran, daß Ming den Diebstahl organisiert hat«, sagte Shan.
»Es ist bloß eine Frage der Beweise. Ich bin der Entdeckung des Freskos noch immer keinen Schritt näher gekommen.« Yao ging zu dem Loch in der Wand, beugte sich vor und strich mit dem Finger über den Rand einer fünfundzwanzig Zentimeter breiten quadratischen Öffnung im Lattenwerk. »Ich dachte, das sei nur irgendein Baumangel. Aber hier lagen die Briefe versteckt, die Ming gefunden und verschlüsselt hat. Danach war alles anders.«
Shan betrachtete ein Foto des Wandgemäldes, das bei den Akten gelegen hatte. Es war ein wunderschönes Motiv, eine Uferlandschaft mit Schilfrohr, Bambus und großen Kranichen, die aussahen, als wollten sie aus der Wand in den Raum fliegen. Die Glyzinienranken am Rand wirkten so naturgetreu, daß sie im Wind zu erzittern schienen. »Haben Sie je mit eigenen Augen den Brief gesehen, den Ming dem Vorsitzenden gemeldet hat und aus dem angeblich hervorging, der Kaiser habe Lhadrung ein Geschenk machen wollen?« fragte Shan.
»Eine Fotokopie.«
»Wie ist das Original verlorengegangen?«
»Ming hat es per Kurier vom Museum zur Polizei geschickt. Der Umschlag wurde später gefunden, aber er war geöffnet worden und leer. Warum fragen Sie?«
»Weil Mings größtes Vergehen nicht der Diebstahl des Freskos war, sondern die Tatsache, daß er den Vorsitzendenbelogen hat. Sie wissen, daß es sich bei diesem Schreiben um eine Fälschung handelt.«
Yao nickte langsam. »Aber es läßt sich nicht nachweisen.« Er legte eine Hand auf die Akten. »Mings Museum war mit der Restaurierung des Gebäudes beauftragt«, zitierte er aus dem Bericht. »Seine Leute haben fast jeden Tag hier gearbeitet – hier und in zwei der kleinen Säle auf der anderen Seite des Geländes. Ming hat nicht nur die Zuteilung der einzelnen Arbeiter und sogar die Zeitpläne überwacht, sondern ist auch selbst häufig vor Ort gewesen. Ich habe alle Personen überprüft. Die letzten beiden Arbeiter wurden von Ming zwei Wochen vor dem Diebstahl eingestellt. Lu und Khan. Man hat nicht mal versucht, ihre Identität zu vertuschen. Sie hatten schon vorher mit Ming zusammengearbeitet, bei zwei seiner Expeditionen.
Alle Arbeiter haben übereinstimmend ausgesagt, am Tag des Diebstahls sei kein Trupp für die Restaurierung hier vorgesehen gewesen. Khan und Lu wurden ebenfalls befragt und gaben an, nichts gesehen zu haben. Ming hat bestätigt, die beiden hätten sich auf der anderen Seite des Geländes aufgehalten. Dieses Haus war für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, wurde aber nicht eigens bewacht, und die ersten Posten standen hundert Meter entfernt. Die Suche nach einem Zeugen, der hier zur Tatzeit irgend etwas beobachtet haben könnte, verlief ergebnislos. Einer der Ermittler sagte, die Diebe seien unsichtbar gewesen, denn sie hätten keine der Sicherheitsschranken passiert. Man hat nach Tunneln gesucht, nach Geheimtüren in den Wänden, und dann wurden sogar alle Hubschrauberflüge an jenem Tag überprüft. Ming hat öffentlich verlautbart, wie enttäuscht er von den Strafverfolgungsbehörden sei.«
Shan drehte sich um und wies auf die Akten. »Es gibt aus den Reihen des Wartungspersonals nur sechs Verhörprotokolle, aber in diesem Bereich des Geländes müßten weitaus mehr Leute beschäftigt sein.«
»Die anderen haben ausgesagt, sie hätten nichts gesehen.«
»Wurden die Leute von Ihnen befragt?«
»Nein, von der Polizei.«
»Und diejenigen, deren Aussagen vorliegen … wie alt waren die?«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Wie alt?« drängte Shan.
»Ich weiß es nicht«, räumte Yao ein und verfolgte verwirrt, wie Shan vom Tisch aufstand und
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