Der verlorene Sohn von Tibet
auf den Ausgang deutete.
Die Unterkünfte der kaiserlichen Dienerschaft hatte Shan vor fast zwei Jahrzehnten bei einem seiner Spaziergänge entdeckt. Sein letzter Besuch lag viele Jahre zurück. Die dunklen und verstaubten Räume waren in einfache Schlafquartiere für manche der Wartungsangestellten umgewandelt worden. Shan bat den Inspektor, in der Nähe des von Glyzinien überwachsenen Torbogens zu warten, und ging hinein.
In einer der Kammern am Ende des langen Korridors saß ein alter Mann mit krummem Rücken neben einem Schlaflager und erhitzte über drei brennenden Kerzen soeben einen Blechbecher mit Wasser. Er hob den Kopf, schien seinen Besucher aber kaum erkennen zu können.
»Ich heiße Shan«, sagte Shan sanft. »Früher habe ich oft in den kleinen Gärten gesessen. Manchmal habe ich mit Ihnen und Ihrem Freund, dem Professor, Dame gespielt. Sie beide haben einst an der Universität gelehrt.«
Das Lächeln des alten Mannes ließ mehrere Zahnlücken erkennen. Er bedeutete Shan, neben ihm Platz zu nehmen. »Ich habe leider nur diese eine Tasse«, sagte er und bot Shan den rußgeschwärzten, verbeulten Becher an. Shan lehnte dankend ab. »Das alles liegt Jahre zurück«, sagte der Mann. »Was ist mit Ihnen geschehen?«
»Ich mußte wegziehen. Heute lebe ich in Tibet«, antwortete Shan langsam und im Plauderton. »Sie haben damals häufig im Schatten der Ziersträucher gesessen, mit den Stengeln das Tao-te-king befragt oder manchmal auch Gedichte gelesen.«
Der alte Mann nickte. »Wenn ich mich recht entsinne, war Ihr Vater auch ein Professor.«
»Vor langer Zeit«, sagte Shan.
Von hinten ertönte ein Geräusch. Yao betrat den Raum.
»Ich darf hier wohnen«, sagte der Gärtner und schaute dabei besorgt zu dem Inspektor.
Shan winkte Yao, er solle sich setzen. »Welch ein Glück«, sagte Shan und erkannte, daß das Zimmer dank der Holzvertäfelung an Wänden und Decke einer Meditationszelle ähnelte.
Der alte Mann starrte auf die Kerzenflamme. Seine Lippen bebten, und in seinen Augen stand Angst.
»Wir versuchen zu verstehen, was an dem Tag geschehen ist, als das Fresko gestohlen wurde«, sagte Shan beruhigend. »Ich glaube, Qian Longs Wohnhaus birgt viele Geheimnisse. Und ich schätze, daß die Diebe einen überraschenden Fund gemacht haben. In einem Fach in der Wand.«
»Am Nationalfeiertag geht Professor Jiang gern hinaus auf den Platz, um mit den Leuten patriotische Lieder zu singen«, verkündete der alte Mann plötzlich mit heiserer Stimme. »Dann bringt er mir immer eine Tüte geröstete Kürbiskerne mit und wirft mir vor, ich hätte meine Pflicht vernachlässigt.«
Yao warf Shan einen Blick zu. Die Botschaft darin war unmißverständlich. Sie sollten aufbrechen. Der alte Mann war verrückt und verschwendete nur ihre Zeit.
»Nachts haben wir im Dunkeln gesessen und die Stimmen all jener gehört, die früher in diesen Räumen gewohnt haben, zu Zeiten der Kaiser. Morgens haben wir manchmal so getan, als hätten wir an jenem Tag einen offiziellen Auftrag am Hof zu erfüllen, und abends haben wir uns dann erzählt, wie es gewesen ist. Immer nur bei den guten Kaisern.«
»Zum Beispiel Qian Long«, sagte Shan.
Der alte Mann nickte. »Das war das Fachgebiet des Professors. Die Zeit des Qian Long. Damals an der Universität hat er Vorlesungen darüber gehalten. Ich habe ihn gebeten, sie für mich hier zu wiederholen.« Er strich mit den Fingern langsam durch die Flammen und wirkte dabei entrückt und eigentümlich fasziniert.
»Wo ist der Professor?« fragte Shan.
»Nun höre ich nachts auch seine Stimme, zusammen mit den anderen.«
Yao murmelte etwas und schickte sich an aufzustehen. Shan hielt ihn mit erhobener Hand zurück. »Sie meinen, er ist gestorben. Wann?«
»Als er sie an jenem Tag überrascht hat, haben sie ihn verprügelt.«
»Die Polizisten?«
»Die Diebe.«
Yao erstarrte und ließ sich dann wieder zu Boden sinken. »Er hat sie gesehen?«
»Aber seine Tage waren ohnehin gezählt«, fügte der alte Mann hinzu. »Er hatte Krebs, das wußte er. In seinem Bauch war eine große Geschwulst.« Er seufzte und blickte auf seine Kerzen. »In der Zeitung stand, die Polizei habe gesagt, es sei ein perfektes Verbrechen und die Diebe hätten genau gewußt, wie man hineinkommt. Ich hielt die Polizisten für Narren. Aber Jiang war anderer Meinung. Nein, sagte er, für die Polizei seien solche Männer tatsächlich unsichtbar.«
Shan musterte den alten Mann bekümmert. Während des Wahnsinns
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