Der verlorene Sohn von Tibet
gefunden, wo er schlafend an einem Tisch saß. Und dann haben sie ihn geschlagen und getreten, dieser große Kerl und sein kleiner Freund.«
Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen.
»Sie müssen uns mehr über die Geheimnisse des Kaisers verraten«, sagte Yao.
Der alte Professor blickte erneut in die Flammen. »Kurz vor dem Ende haben er und der amban dem Hof einen Streich gespielt.«
»Sie haben sich Briefe auf tibetisch geschrieben«, sagte Shan und stutzte. »Woher wissen Sie, daß wir uns für den amban interessieren?«
»Der amban hat in Tibet gelebt, und der Schriftwechsel mit ihm war dem Kaiser im letzten Jahr seines Lebens überaus wichtig. Als der amban verschwand, hat der Kaiser sich vondieser Tragödie nie wieder erholt. Briefe des amban wurden gestohlen. Und nun kommen Sie aus Tibet hierher.« Er wandte sich in Richtung der Schatten. »Das sind ganz schön viele Zufälle, was, Jiang?«
Shan griff unter sein Hemd, holte ein Stück Stoff hervor und entrollte es. Es war das alte zerrissene thangka . »Wir wissen vom Schatz des amban «, sagte er. »Und wir wissen auch, daß dieses Bild angeblich den Fundort verraten sollte.«
Der Professor gab einen Laut der Begeisterung von sich, und seine Augen erstrahlten wie die eines Kindes. »Das ist es, Jiang!« flüsterte er. »Es ist das Bild, auf das der Kaiser so sehnlich gewartet hat, ohne es je zu erhalten.« Er betrachtete das zerrissene Gemälde sehr lange, drehte es um und musterte die beiden Handabdrücke. Dann hielt er sich die Vorderseite mit den Götterbildern dicht vor das Gesicht.
»Woher wußten Sie davon?« fragte Yao.
»Qian Long hatte mehrere geheime Verstecke. Wie Tresore. Eines befand sich in der Wand des Speisezimmers hinter dem Fresko, einige andere in dem tibetischen Altarraum, in dem er sich mit seinen Lama-Lehrern traf. Vor geraumer Zeit haben wir in dem Altar Briefe und geheime Baupläne entdeckt, auf denen das Wandfach eingezeichnet war. Dabei stand eine Notiz, die besagte, Qian Long habe die erste Hälfte des thangka sowie ein paar Briefe des amban dort hinterlegt. Wir haben sie in der Wand gelassen, weil wir das Versteck für sicher hielten und nie damit gerechnet hätten, was geschehen würde.«
Der alte Professor wirkte regelrecht verzückt, nahm noch einmal das thangka , hielt es sich unmittelbar vor die Augen und grinste wie ein kleiner Junge. »Es lag in Tibet verborgen, am früheren Aufenthaltsort des amban .«
Shan und Yao sahen sich an. »Stimmt, aber wie kommen Sie darauf?« fragte der Inspektor.
»Als Jiang nach dem Diebstahl des Freskos verletzt hier lag, ließ er mich die Briefe aus dem Altarraum holen, denn er fürchtete, die Täter könnten zurückkommen und nach ihnen suchen. Bis dahin hatten wir uns gar nicht die Mühe gemacht, sämtliche Altarbriefe zu lesen. Zwei weitere Schreiben, beideauf tibetisch verfaßt, lagen auf dem Boden des Speisezimmers vor der zerstörten Wand. In den Archiven fanden sich ebenfalls Unterlagen zu Qian Long, darunter Kopien von Briefen. Wir trugen alles zusammen, was mit dem amban zu tun hatte. Als wir fertig waren und zumindest die chinesischen Texte gelesen hatten, war Jiang wie verwandelt. Er vergaß all seine Schmerzen und sogar, daß er bald sterben mußte. Er hatte eine Theorie, die ihm große Freude bereitete.«
»Was für eine Theorie?« fragte Shan.
Der alte Mann schien ihn nicht zu hören. »Der amban wurde krank. Sie hielten es geheim, denn sie dachten, man würde es als Zeichen der Schwäche werten. Drei Briefe kamen, in denen stand, die Heimreise des amban müsse aufgeschoben werden. Qian Long machte eine schwierige Zeit durch, denn er hatte beschlossen, seine Regentschaft zu beenden, um auf diese Weise seinen Großvater zu ehren. Er sagte, er wolle nicht länger als sein Großvater auf dem Thron dienen und daher nach sechzig Jahren abdanken. Daraufhin wurden am Hof vielerlei Ränke geschmiedet, denn Qian Long versuchte zu entscheiden, welcher der Prinzen als sein Nachfolger den Himmelsthron besteigen würde. Es gab überall Spione und sogar einige Meuchelmorde. Ein einzelnes Wort des Kaisers sollte die Welt verändern.« Die Stimme des alten Mannes erstarb, denn das Gemälde zog ihn wieder in den Bann.
»Ein Jahr lang tauschten der amban und der Kaiser Briefe aus, eilige Briefe, die mit der kaiserlichen Post befördert wurden«, fuhr er schließlich fort und bezog sich dabei auf das minuziös organisierte Netzwerk aus Meldereitern und Zwischenstationen,
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