Der verlorene Sohn von Tibet
einem Restaurant angefangen.
»Wie ist der derzeitige Stand der Prüfung?« fragte Shan.
»Die Geräte zur Thermolumineszenzanalyse sind gerade eingetroffen. Wir haben sie uns in England geliehen. Jetzt suchen wir nach jemandem, der sie bedienen kann.«
»Wo befinden sich die Exponate, die untersucht werden sollen?«
»Noch immer in ihren Vitrinen.«
»Meine dritte Bedingung lautet, daß Sie eines der Stücke verschwinden lassen.«
Ein hinterhältiges Lächeln stahl sich auf Yaos Gesicht. Er nickte. »Ist das alles?«
»Nein. Sie müssen nach Lhadrung zurückkehren.«
»Das hatte ich ohnehin vor. Wenn wir hier fertig sind, wird es dort einiges aufzuräumen geben.«
»Noch heute abend«, sagte Shan. »Entweder Sie fliegen oder ich. Sobald Sie dort sind, gehen Sie zu Tashi, dem Spitzel. Erzählen Sie ihm, es sei Ihnen gelungen, den Brief ausfindig zu machen, der laut Ming bei der Polizei verlorengegangen ist. Den Brief, in dem der Kaiser angeblich etwas über sein Geschenk an Lhadrung geschrieben hat. Sagen Sie ihm, auch dieses Schreiben werde nun auf seine Echtheit überprüft.«
Yao lächelte abermals. »Warum heute abend? Was ist so dringend? Ihre Freunde Lokesh und Liya sind in Sicherheit.«
»Es geht nicht um seine Freunde«, sagte Corbett. »Er befürchtet, daß man Ko zurück in die Kohlengrube schickt.« Der Amerikaner sah Shan an, aber der schaute zu Boden. »Er versucht immer noch, ein Vater zu werden.«
Kapitel Sechzehn
Jeder Kilometer, jede Minute, die er sich weiter von Tibet entfernte, versetzten Shan einen kleinen Stich. Schon die Reise nach Peking war eine Qual gewesen. Die Neuigkeit, daß er nach Amerika fliegen würde, ließ ihn erstarren. Er kam sich hilflos vor. An Bord der Maschine schreckte er mehrere Male hoch – nicht direkt aus einem Traum, denn er hatte kein Bild vor dem inneren Auge, eher aus einem schrecklichen Gefühl, einer furchtbaren Angst, daß er Gendun und Lokesh nie wiedersehen würde, genausowenig Ko, trotz Yaos Versprechen, noch am selben Abend nach Lhadrung zurückzukehren.
Sie landeten im Dauerregen auf einem Flughafen, der von Schnellstraßen und Lagerhäusern umgeben war. Corbett, der zu keinem Zeitpunkt von Shans Seite wich, führte ihn zu zwei jungen, gepflegt wirkenden Männern in Anzügen. Sie begrüßten den FBI-Agenten mit höflicher Achtung, bedachten Shan mit einem kurzen Stirnrunzeln und brachten sie dann – vorbei an der langen Warteschlange vor den Schaltern der Paßkontrolle – in ein Büro, in dem mehrere Männer und Frauen vor den Bildschirmen einer Videoüberwachungsanlage saßen. Corbett bedeutete Shan, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, und führte mit gedämpfter Stimme ein fast zehnminütiges Telefonat. Dann sprach er ebenso leise mit einer mürrischen Uniformierten, die mit einem Klemmbrett mehrfach auf Shan wies. Corbetts Begründung für Shans Anwesenheit schien der Beamtin eindeutig nicht zu gefallen, aber schließlich trug sie etwas in ein Formular auf ihrem Klemmbrett ein, riß den Zettel ab, gab ihn Corbett und ging weg.
Schweigend fuhren sie durch den Regen. Die beiden jungen FBI-Agenten saßen auf den Vordersitzen der großen blauen Limousine. Corbett hatte auf der Rückbank seinen Kopf gegendie Scheibe gelehnt und war eingeschlafen. Shan saß neben ihm und schaute zum anderen Fenster hinaus.
»Warum so mißmutig?« fragte der Mann am Steuer plötzlich. Er war der Mitarbeiter namens Bailey, wenngleich sein Gesicht chinesische Züge aufwies. »Ich dachte, jeder in China würde davon träumen, nach Amerika zu reisen. Sie sehen aus, als hätte man sie zum Tode verurteilt und der letzte gute Anwalt wäre soeben gestorben.« Sein Partner lachte und wandte sich erwartungsvoll zu Shan um. Als Shan nicht reagierte, warf Bailey ihm einen verwirrten Blick zu. »Verdammt, Corbett hat behauptet, Sie würden Englisch sprechen«, sagte er auf Mandarin.
»Keiner träumt davon, als Gefangener herzukommen«, entgegnete Shan in derselben Sprache. Ihm fiel wieder ein, was Corbett in den Bergen über seine Anwesenheit in Tibet erzählt hatte: Das FBI habe jemanden benötigt, der Chinesisch spreche. Sein junger Mitarbeiter beherrschte die Sprache genauso gut.
Bailey lachte und übersetzte für seinen Kollegen. »Sieht das hier etwa wie ein Gefängnis aus?« fragte er auf englisch, als er vor einem kleinen, zweigeschossigen Haus anhielt. Die hölzernen Wände waren grau, die Fensterrahmen und der Vorbau weiß. Es wirkte ein wenig heruntergekommen.
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