Der verlorene Sohn von Tibet
»Es hat keinen ersten gegeben. Und wenn ein Chinese einen anderen Chinesen ermordet, geht es das FBI nichts an.«
»Das Opfer war eine Britin. Sie hat zu den Dieben in Dolans Anwesen gehört.«
»Das können Sie nicht wissen.«
»Sie hat es selbst zugegeben«, sagte Shan.
»Und ermordet hat sie einer ihrer Komplizen.«
»Ja«, bestätigte Shan.
»Gute Arbeit«, sagte der Vorgesetzte. »Dolan wird sich freuen.« Er wandte sich stirnrunzelnd an Corbett. »Und warum muß ich das von diesem Chinesen erfahren?«
»Damit Sie sich besser fühlen, wenn Sie an die amerikanischen Steuergelder denken«, erwiderte Corbett.
»Es war ein Verbrechen auf chinesischem Hoheitsgebiet«, sagte Shan.
»Stimmt«, entgegnete der Mann und wirkte zum erstenmal leicht verunsichert. Er schüttelte den Kopf und schob die Akte quer über den Tisch zu Corbett. »Während Sie weg waren, haben die Jungs einen Kunsthändler ausfindig gemacht, der für Dolan gearbeitet hat. Ich teile ihre Ansicht. Er kommt am ehesten als Hintermann in Betracht.« Der dicke Mann nickte Shan zu und verließ den Raum. Er hatte weder Platz genommen noch seinen Namen genannt.
Bailey, der Agent mit den chinesischen Gesichtszügen, grinste breit, zwinkerte Shan zu und wies auf Corbett. »Da hat aber jemand einen mächtigen Einlauf erhalten«, stellte er mit lautem Flüstern fest. Sein junger Partner lachte.
Corbett warf einen Blick auf die Akte und schob sie mit übermütigem Lächeln zu Shan herüber. Auf dem Schnellhefter stand der Name »Adrian Croft«.
»Es ist jetzt drei Tage her, daß ich euch mitgeteilt habe, von wo aus der Mord an Elizabeth McDowell befohlen wurde. Ich brauche mir die Akte nicht anzuschauen«, sagte er zu Bailey. »Erzählt mir was.«
Bailey nahm sich den Ordner und klappte ihn auf. »Er steht auf der Teilnehmerliste von zwei der Expeditionen, die Ming in die Innere Mongolei unternommen hat«, erklärte er und hielt erst ein Fax, dann eine Gesprächsnotiz hoch. »Croft Antiquities wurde mehrfach für viel Geld als Beratungsfirma engagiert,und zwar sowohl bei einigen Museumsprojekten, die Dolan finanziert hat, als auch beim Umbau von Dolans privaten Ausstellungsräumen. McDowell hat für die Firma gearbeitet und war Dolans persönliche Ansprechpartnerin. Sie hat den Wert all seiner Exponate geschätzt. Das Büro, das aus Tibet angerufen wurde, liegt einen knappen Kilometer von hier entfernt. Die Firma gilt als Expertin für asiatische Kunst und deren Verkauf.«
»Haben Sie eine vollständige Liste der Expeditionsteilnehmer?« fragte Shan.
»Na klar«, sagte Bailey. »Die Plätze werden an reiche Touristen verkauft.«
Shan überflog die Unterlagen, die Bailey ihm gab. »Hier steht nirgendwo Dolans Name.« Er sah Corbett an.
»Aber wir wissen, daß er dabei war«, teilte Corbett seinem Assistenten mit. »Wir haben die Fotos gesehen.« Er bemerkte Shans Grinsen und verzog das Gesicht. »Mistkerl.« Seine Kollegen senkten die Köpfe, als sei es ihnen peinlich. »Sozialversicherung«, sagte Corbett. »Zoll. Einwanderungsbehörde. Finanzamt. Los!«
Die beiden Männer eilten aus dem Zimmer. Corbett stand auf, nahm die Akte und bedeutete Shan, ihm zu folgen. Bevor sie gingen, beugte er sich über den Tisch der grauhaarigen Dame am Empfang. »Falls er fragt, sind wir zu Besuch beim chinesischen Konsul. Und beim Bürgermeister. Wegen der Übergabe des Schlüssels der Stadt und so weiter.«
Sie fuhren unter grauem Himmel auf die andere Seite der Wasserfläche, die Shan von Corbetts Haus aus gesehen hatte. Lake Union, sagte der Amerikaner. Als sie langsam am Westufer entlangrollten, bat Shan ihn, er möge kurz anhalten. Unter ihnen startete soeben ein Wasserflugzeug.
»Wohin fliegt die Maschine?« fragte Shan.
»Zu den Inseln. Weit weg von hier«, sagte Corbett und wartete, bis das Flugzeug in den tief hängenden Wolken verschwunden war.
Sie kamen an einem großen, etwa achtgeschossigen Backsteinbau vorbei, der wie ein altes Lagerhaus aussah, aber Geschäftsräume beherbergte. Corbett wies auf ein Fenster in derobersten Etage, mit Blick auf das Wasser. »Croft Antiquities.« Dann bog er auf einen Parkplatz ein und fand eine Lücke genau gegenüber dem Gebäude.
Nach einer Viertelstunde überquerten sie die Straße und folgten einem Wagen in die Tiefgarage des Hauses. Die Stellplätze waren mit den Namen der jeweiligen Personen oder Firmen versehen. Zu Croft Antiquities gehörten drei Parkflächen, davon zwei mit dem Firmennamen und einer
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