Der verlorene Sohn von Tibet
Amerikaner etwas, nur um zu zeigen, daß es möglich war.
Shan stellte die elektrische Kerze zurück auf die Fensterbank und ging wieder hinaus. Dort setzte er sich mit übergeschlagenen Beinen auf die Veranda, während hinter der Scheibe über seinem Kopf der Glühfaden flackerte. Er suchte nach einem ruhigen Platz in seinem Innern, doch da war nur ein Strudel aus Verzweiflung, Erschöpfung und Hilflosigkeit, als wäre Shan ein zerbrechliches kleines Boot, das sich vom Anker losgerissen hatte. Er zwang sich, reglos zu verharren, richtete den Blick erst auf das Wasser und dann ziellos ins Leere. Der Regen setzte wieder ein. Shan blinzelte nur kurz, schloß die Augen, bis der Schauer vorüber war, und starrte dann erneut auf den trüben grauen Horizont.
Als er sich wieder seiner selbst bewußt wurde, standen die Wolken sehr viel höher am Himmel, und die meisten der Lichter am anderen Ufer waren erloschen. Er schaute zu den Zahnstochern in seiner Hand und erinnerte sich allmählich, wo er sich befand. Dann warf er die Stäbchen vor sich auf die Bretter, teilte sie in drei zufällige Gruppen, nahm die erste Gruppe und zählte sie aus. Mit dieser jahrhundertealten Methode baute er eines der Tetragramme auf, die traditionell zur Befragung des Tao-te-king genutzt wurden. Der Vorgang sei gar nicht so zufällig, wie man glauben könnte, hatte Shans Großvater immer gesagt, denn sowohl die Stäbchen als auch der Fragende gehorchten einem vorherbestimmten Schicksal. Nach einigen Minuten hatte Shan zwei zweigeteilte Striche über einer Reihe aus drei Segmenten und einer ebenfalls zweigeteilten Grundlinie vor sich. Laut der Tabellen, die er sich schon als Kind eingeprägt hatte, verwies dieses Tetragramm auf Kapitel vierundvierzig. Shan flüsterte die Worte in Richtung des Wassers:
Je mehr man begehrt,
desto mehr muß man geben.
Je mehr man hortet,
desto größer ist der Verlust.
Die Worte hinterließen ein Gefühl der Leere. Shan blickte in den kühlen, dunklen Morgendunst. Aus der Ferne hörte er vereinzelten Motorenlärm und Signalhörner, dann das Kreischen von Möwen.
Irgendwann vernahm er ein Geräusch aus der Küche. Es regnete immer noch, aber der Himmel über dem See war nun hellgrau, und auf den Wolken lag ein rosafarbener Schimmer. Die Tür hinter ihm öffnete sich einen Spalt, und ein aromatischer Duft stieg ihm in die Nase. Kaffee, erkannte Shan. Corbett kam mit zwei dampfenden Bechern nach draußen. Zu Shans Erleichterung enthielt die für ihn bestimmte Tasse starken schwarzen Tee.
»Sie haben Ihr Bett gar nicht angerührt«, sagte der Amerikaner und schaute hinaus aufs Wasser.
»Ich habe mich mit einer Decke auf den Boden gelegt.«
»Herrje, Shan, etwas Bequemlichkeit ist doch keine Sünde«, sagte Corbett merkwürdig zögernd.
»Diese Veranda gefällt mir«, sagte Shan und wußte selbst nicht, weshalb das wie eine Entschuldigung klang.
»Es hat meiner wunderbaren Tante gehört. Das Haus, meine ich, und außerdem ein kleines Ferienhaus auf einer der Inseln nördlich von hier, fast schon in Kanada. Es liegt ganz idyllisch am Ufer, und um diese Jahreszeit ist dort alles voller Blumen. Ein Jahr nach meiner Scheidung ist sie gestorben und hat mir alles vererbt. Andernfalls würde ich immer noch in irgendeiner Einzimmerwohnung hocken. Mehr war mir nämlich nicht geblieben, nachdem meine Frau …« Er wandte sich ab und sah wieder zum Wasser. »Auf dem Rückweg nach Zhoka sind Lokesh, Dawa und ich nachts an einem kleinen See vorbeigekommen. Er lag hoch in den Bergen, und in seiner Oberfläche spiegelte sich der Mond. Irgendwie hat er mich an diesen Ort hier erinnert. Lokesh sagte, wir müßten anhalten und Gebete an die Wassergötter richten. Immer wenn ich jetzt die Bucht sehe, werde ich mich fragen, wie es wohl ihren Göttern gehen mag.«
Während er mit Shan durch Seattle fuhr und von der feuchten, hügeligen Stadt erzählte, hellte Corbetts Stimmung sich merklich auf. Sie kamen an einem seltsamen Turm mit abgeflachter Spitze vorbei, den er als »Space Needle« bezeichnete, folgten dem Uferverlauf und bogen auf den Parkplatz eines alten Granitgebäudes ein, das wie eine Festung aussah. Schweigend gingen sie die Treppe hinauf und passierten eine Sicherheitsschleuse. Nach den zahllosen fremden Eindrücken, die auf ihn eingestürzt waren, konnte Shan sich kaum konzentrieren. Ein Linienbus war auf voller Länge mit dem Bild eines nackten Frauenbeins bemalt worden, einschließlich einiger Worte über
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