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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Ranken mit violetten Blüten wanden sich an den Stützbalken der Veranda empor und hatten bereits einen Teil des Dachbodens erobert. Die dichten Sträucher am vorderen Grundstücksrand wucherten üppig auf den Gehweg hinaus.
    »Die Nachbarn können kaum glauben, daß ich beim FBI arbeite«, sagte Corbett, als sie ausgestiegen waren und mit seinem Koffer und Shans Schnürbeutel neben dem Wagen standen. »Denen wäre es lieber, wenn alle Polizisten wie junge Marines aussehen würden – und ihre Häuser wie Soldatenunterkünfte.« Bailey und sein Kollege fuhren los.
    Als der Amerikaner die Tür aufschloß und seinen Gast hineinbat, wurde Shan klar, wie wenig er über das Privatleben des Mannes wußte. »Haben Sie eine Familie?« fragte Shan und betrachtete mehrere gerahmte Fotos, die auf einem Tisch neben der Tür standen. Ein sommersprossiger Junge auf einem Dreirad.Ein verärgertes kleines Mädchen, das einen großen Stiefel hielt. Die Fotos waren verblichen, und das Glas eines der Rahmen hatte einen Sprung.
    »Nicht unmittelbar«, murmelte Corbett und wandte sich ab. »Hören Sie mir zu, bevor ich vor lauter Erschöpfung umfalle. Ich verpasse Ihnen die Führung im Schnelldurchlauf.« Er deutete nach rechts, nach vorn und nach links. »Wohnzimmer, Küche, unteres Bad.« Dann nahm er seinen Koffer und sprach weiter, während er die Treppe hinaufstieg. »Das Gästezimmer ist die erste Tür rechts. Dann kommt das Bad, dann mein Schlafzimmer.«
    Shan war verblüfft. »Sie haben zwei Badezimmer?« Um seine frühere Wohnung in Peking, die höchstens so groß wie Corbetts Wohnzimmer gewesen war, hatte man ihn schon deswegen beneidet, weil er nur zehn Meter bis zur Gemeinschaftstoilette zurücklegen mußte. Für die Körperpflege gab es ein Stück die Straße hinunter ein öffentliches Badehaus.
    Corbett ging nicht darauf ein. »Ich bin todmüde. Lassen Sie uns morgen reden. Ihr Bett dürfte noch halbwegs frisch bezogen sein. Gute Nacht.« Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer. »Morgen lernen Sie neue amerikanische Freunde kennen.« Dieser letzte Satz klang beinahe verbittert.
    Aber Shan fand keine Ruhe. Zuerst saß er einfach auf dem Bett, starrte es an und versuchte sich zu erinnern, wann er zum letztenmal in einem richtigen Bett mit echter Bettwäsche geschlafen hatte. Dann nahm er die zusätzliche Decke, die gefaltet am Fußende lag, und legte sich zwischen Bett und Fenster auf den Boden. Dort wälzte er sich unruhig hin und her, döste mehrmals kurz ein und wachte jedesmal wieder auf. Bisweilen verspürte er dabei eine schreckliche, unwirkliche Angst, wie sie mit Alpträumen einherging, obwohl er sich nie an Einzelheiten erinnern konnte. Schließlich wickelte er sich die Decke um den Leib, stieg im Dunkeln vorsichtig die Treppe hinunter und schlenderte leise durch die Räume. Er kam sich wie ein unbefugter Eindringling vor und fragte sich, was ein einzelner Mensch wohl mit dermaßen viel Platz anfangen sollte. Aus der Küche gelangte man auf eine Veranda hinter dem Haus, diekein Geländer besaß, aber zur Hälfte überdacht war, so daß der Regen abgehalten wurde. Sie lag erhöht über einer Garage im Untergeschoß, und Shan fand sich unvermittelt zwischen Koniferen wieder. Sein Blick fiel hangabwärts auf eine große Wasserfläche in einigen hundert Metern Entfernung, und es war fast so, als würde er aus einer Berghöhle auf einen See hinausblicken. Allerdings spiegelten sich dort im Wasser nicht die Sterne, wie Shan gleich darauf erkannte, sondern die Lichter der Häuser am anderen Ufer. Der Regen war mal stärker, mal schwächer. In der einen Minute goß es in Strömen, in der nächsten blieb nur noch ein feiner Sprühregen.
    Auf dem Küchentisch entdeckte Shan ein kleines, schmales Glas voller Zahnstocher. Er zählte vierundsechzig der Holzstäbchen ab, sah eine Kerze in einem metallenen Halter und nahm sie vom Fensterbrett. An ihr hing ein Stromkabel. Shan betätigte den runden Schalter, und die Kerze flackerte auf. Verwirrt beobachtete er, daß der kleine Glühfaden hin und her sprang, um eine Flamme zu simulieren. Wie so vieles in Amerika ergab auch dies für Shan keinen Sinn. Wenn jemand eine Kerze wollte, wieso nahm er dann keine echte Kerze? Es wäre viel preisgünstiger gewesen, als eine trübe elektrische Lampe zu kaufen, die wie eine Kerze aussah. Shans Vater hatte ihm einst eine Reise nach Amerika versprochen und angefangen, mehr über das Land zu erzählen. Manchmal, so hatte sein Vater gesagt, taten

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